Gutes entsteht, wenn Inhalt und Form korrespondieren. Sonja Studer versteht sich durch und durch als Designerin, bringt jedoch seit Jahren auch die Gedanken ihrer Kund:innen sprachlich auf den Punkt.
1991. Da sassen sie, die Drei. Jung, cool, selbstbewusst – ey, Mann. Sie spielten in der Pause mit dem Hacky-Sack, sie schnorrten Zigaretten, sie waren begabt und hatten Pläne. Das Dreieck, so müsse ihre Formation heissen. Sie würden zusammen arbeiten, zusammen gross werden und erfolgreich.
Der Eine sprach nichts. Intuitiv gelangen ihm gestalterische Würfe, die sowohl Lehrerschaft als auch Kommilitonen verblüfften. Der andere dachte viel, scheute keinen gedanklichen Unter- und Überbau und brachte uns stets durcheinander. Wir wusste nie, ob der intellektuelle Habitus Flucht oder Masche war, doch nach Jahren konzeptueller Treue vertrauten wir seinen Lösungen blind. Der dritte war umwerfend charmant, kommunikativ und begeisterungsfähig. Über Gestaltung wollte er alles wissen. Er inhalierte Design wie andere Leute Joints, und er nahm seine eigene Arbeit sehr ernst.
Es wurde nicht Das Dreieck. Nach zehn Arbeits- und Wanderjahren in Bern, Berlin und Toronto entstand in Zürich das Atelier Sofie’s Kommunikationsdesign.
2011. Vor dem niedrigen Eisentor der ehemaligen Garage beim Bahnhof Wipkingen eine Vespa. Das Tor anthrazit, der Roller olivfarben, drei Männer stehen davor und rauchen in die Morgensonne. Ein Filmstill wie aus den Sechzigern. Schnitt. Der Besprechungstisch im grossen Raum, schwarz und irgendwie zu breit. Dahinter reihen sich Grafikstationen auf, drei Arbeitsplätze akkurat und gleichberechtigt in einer Linie. Eine alte Honda 450, schwarze Ledersofas, der Bildschirm mit Playstation, stapelweise Kunstkataloge und Bücher, Bücher.
Wolf, Moser und Steck erzählen von Sofie. Sie erzählen viel und gerne, und wenn sie über sich selbst in der dritten Person Singular erzählen, so mutet das nicht seltsam an, denn sie zeichnen das Porträt einer sofie, die sie umsorgen, für die sie arbeiten, mit der sie Pläne haben und in die sie ihre ganze Schaffenskraft stecken. Sie erzählen vom Streben danach, sich nie zu verleugnen und ihren Interessensgebieten Architektur, Kunst und Kultur in der Arbeit treu zu bleiben. Sie erzählen, wie sie ihre Auftraggeber als Partner sehen, wie wichtig ihnen dabei Dialog und gegenseitiger Respekt sind und dass jeder Strich dem höchsten Qualitätsanspruch untersteht. Wie sie von Job zu Job mehr an Profil gewinnen und wie das Netz von Kunden und Freunden wächst und trägt. Sie erzählen vom Ringen um Geld und Geist und von Anekdoten wie derjenigen, als sie das immense Werbebudget einer – notabene –Antirauchermedikamen-ten-Kampagne eines Pharmamultis ablehnten oder wie sie Green-peace nach dem ersten Kennenlernen davon überzeugen mussten, eine ernstzunehmende Partnerin zu sein, obschon sofie mit Sprayleim Displaymount 3M stark klebend arbeiten. Und davon, wie gross das Glück war, als sie mit ihrem ersten Auftrag den Berner Künstler Balthasar Burkhard im Helmhaus Zürich betreuten.
Sofie, sagen sie, ist, wenn Wolf, Moser und Steck in der Entwurfs-phase jedes Projekts gegeneinander antreten. Wenn jeder versucht, besser zu sein als der andere. Wenn intern präsentiert wird und argumentiert, wenn Ideen verworfen werden oder hart verteidigt. Ein Prozess, der immer zu einem Resultat führt, denn drei gibt zwei zu eins oder wird mit drei zu null entschieden. Wie im Fussball, wo sofie ihre Liebe paritätisch auf die Clubs FCZ, GC und YB verteilen.
Heute feiern Sofie ihr zehnjähriges Bestehen. Aber eigentlich sind Sofie elf, denn zwischenzeitlich sind drei Frauen und fünf Kinder dazugekommen.
Sofie sind etabliert und arbeiten für die Kunstmuseen Basel, Luzern und Solothurn, für Clubs und Galerien. Für Architekten, die ETH und das Migros Kulturprozent. Sie haben das Leitsystem für das Bundeshaus entworfen, Erscheinungsbilder für Lokale wie das Kafischnaps oder die Massnahmenagentur plan b. Doch ihre grosse Leidenschaft ist die Buchgestaltung. Bücher zu machen, darin sind sie sich einig, ist die Königsdisziplin. Bücher zu machen bedeutet, sich in kaltes Wasser zu werfen, zu schwimmen und ringen und – im Fall von sofie – manchmal am Schluss mit der Auszeichnung Die schönsten Schweizer Bücher wieder aufzutauchen. Der Aufwand ist enorm, die Freude gross, der Stolz ebenso. Ein Kondensat liegt hier vor: Zehn Jahre Originalbücher und Plakate gebunden und mit einem fotografischen Beitrag der beiden Künstler Alexander Jaque-met und Adrian Scheidegger durchwirkt.
Ich sage Ihnen, es ist schön, mit Sofie befreundet zu sein.
Wie war die Welt vor hundert Jahren? Was bewegte damals eine Frau, ihr ganzes Vermögen dem Gemeinwohl zu überschreiben? Und wie gelangte diese Frau zu ihrem Vermögen? Wir können darüber nur mutmassen, wissen jedoch, dass Elise Hirzel-von Schwerzenbach klare Visionen hatte und diese auch in Taten umsetzte. Im Jahr 1916 rief sie die Hirzel Stiftung ins Leben und formulierte deren Zweck als «Förderung und Unterstützung gemeinnütziger Bestrebungen auf dem Gebiete der schweizerischen Eidgenossenschaft.». So stellen wir uns einen grosszügigen Menschen vor, eine Frau — wohl kinderlos — mit einem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit und das Gemeinwohl.
Heute unterstützt die gemeinnützige Hirzel Stiftung mit Sitz in Zürich Projekte aus den Bereichen Bildung, Soziales, Kultur und Wissenschaft. Ihr Ziel und Zweck ist es, institutionelles und professionelles Engagement gezielt zu fördern und mit ihrer Spendentätigkeit einen Teil zum Schweizer Gemeinwohl beizutragen.
Die zuständige Stiftungspräsidentin und Stiftungsrätin arbeiten interdisziplinär. Sie prüfen jedes eingereichte Gesuch sorgfältig nach dem Vier-Augen-Prinzip. Die zwei engagierten Fachfrauen — ihres Zeichens Anwältin und Kulturmanagerin — stellen so sicher, dass die Vergabungen im Sinn der Stifterin erfolgen.
Die Hirzel Stiftung untersteht der Aufsicht des Eidgenössischen Departement des Innern EDI.
www.hirzelstiftung.ch
((Engagement))
Die Hirzel Stiftung fokussiert auf vier Themen: Bildung, Soziales, Kultur und Wissenschaft. Sie engagiert sich für Projekte, welche gesellschaftlich relevant sind und einem möglichst breiten Kreis von Teilnehmenden zugute kommen. Sie unterstützt Institutionen, Vereine, Bildungsinstitute, Hilfswerke oder in einzelnen Fällen auch initiativen Einzelpersonen.
((Engagement > Sozial))
Die Hirzel Stiftung wurde in einer Zeit ins Leben gerufen, als der Schweizer Sozialstaat noch weit von seiner heutigen, raffinierten Form entfernt war. Weder die IV noch die AHV existierten damals — «Invalide», «Alte und Hinterlassene» wurden meist ihrem eigenen Schicksal überlassen. Trotz der soliden Absicherung, die wir heute dank dieser Werke geniessen, sind soziale Projekte oft auch auf nicht-staatliche Hilfe angewiesen. Deshalb engagiert sich die Hirzel Stiftung für Projekte, die auf das Wohl von Kindern und Benachteiligten ausgerichtet sind.
((Engagement > Bildung))
«Wer nichts weiss, hat nichts zu sagen», so Marie von Ebner-Eschenbach, eine der wichtigsten deutschsprachigen Erzählerinnen des 19. Jahrhunderts. Und formuliert damit, was das Schicksal von Menschen ist, die keinen Zugang zu Bildung haben. Die Hirzel Stiftung engagiert sich für Bildung — und das tut sie dezidiert, denn Bildung ermöglicht eine eigene Meinungsbildung, fördert die persönliche Offenheit, stillt Neugierde und stärkt das Selbstbewusstsein.
((Engagement > Wissenschaft))
Die Wissenschaft ist der Inbegriff alles menschlichen Wissens, aller systematisch zusammengetragenen und stets erweiterten Erkenntnisse und der Lehre dessen. Alle Lebensbereiche sind von Wissenschaft betroffen: Psychologie, Physik, Mathematik, Informatik oder Ingenieurwesen und vieles mehr. Die Hirzel Stiftung strebt primär nach einem: Wissenschaft möglich zu machen, die unser Leben lebenswerter machen.
((Engagement > Gesundheit))
Die Hirzel Stiftung engagiert sich für das elementare Menschenrecht auf Gesundheit. Sie unterstützt grosse und auch ganz kleine Projekte, allesamt widmen sich diese der medizinischen Grundversorgung, ganzheitlicher Behandlung, Prävention und Krankheitsbekämpfung. Denn die Gesundheit ist einer der wichtigsten Pfeiler für ein würdiges Leben.
((Engagement > Kultur))
Ob Tanzen, Modellieren, Skizzieren, Schreiben, Philosophieren oder Inszenieren: Die Hirzel Stiftung engagiert sich für ein reichhaltiges kulturelles Leben und Schaffen jeder Couleur und unterstützt sowohl Institutionen, Programme, Veranstalter, Festivals wie auch Kulturvermittlungsprojekte.
((Förderkriterien))
Die Hirzel Stiftung richtet sich bei der Beurteilung der eingereichten Gesuche nach klar definierten Förderkriterien. Die Gesuchstellenden können sich auf diesem Weg bereits vor der Eingabe ihres Gesuchs transparent zu den Massstäben informieren. Neben der Qualität des Projekts wird auch auf die Dringlichkeit sowie eine ausgewogene Verteilung der Vergabungen Wert gelegt.
Gleich zu Beginn: Wir freuen uns riesig, mit Peter Stamm, einem der erfolgreichsten deutschsprachigen Schriftsteller, den Auftakt zum diesjährigen Internationalen Buch- und Literaturfestival zu machen. Peter Stamm stellt uns seinen viel diskutierten fünften Roman «Nacht ist der Tag» vor, den wir gerne mit der Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Laure Wyss diskutiert hätten, was natürlich nicht mehr möglich ist, da Frau Wyss bereits 2002 verstorben ist. Doch können wir uns zumindest über die Biografie von Barbara Kopp freuen, die das Leben und Schaffen dieser Grande Dame des Schweizer Journalismus würdigt.
Starke Frauenstimmen gibt es zum Glück noch immer viele; so erwarten wir Mythen, Märchen und Horror von Nora Gomringer in «Monster Poems», die Geschichte von zwei zu jagenden Tigern von der deutschen jungen Überfliegerin Helene Hegemann, die wegen Plagiatsvorwürfen bereits mit 17 Jahren die Feuilletons nervös machte, und Angst in all seinen Facetten – gegliedert in Existenzangst, Todesangst, Angst vor Fahrstühlen, Hunden und Einsamkeit von Annette Pehnt, die mit ungeheurem Mut zur Leidenschaft in einer Basler Privatwohnung im Rahmen der «Kitchen Reading» zu hören sein wird.
Welche deutschsprachigen Schriftstellerinnen erwarten wir noch am Festival? Eveline Hasler, die seit Jahren aus der Schweizer Literaturszene nicht wegzudenken ist. Die für den Schweizer Buchpreis nominierte Henriette Vásárhelyi und die mit der allerhöchsten Auszeichnung des deutschsprachigen Literaturbetriebs, dem Georg-Büchner-Preis, geehrte Sibylle Lewitscharoff, die in Basel frisch gekürt aus ihren neuen Texten lesen wird.
«Huere glatti Sieche» seien die beiden Figuren aus Arno Camenisch neuem Roman «Fred und Franz» schreibt Manfred Papst in der NZZ. «Es ist ein wenig, als wären Bouvard und Pécuchet, die beiden Käuze aus Flauberts Spätwerk, oder Becketts Clowns Wladimir und Estragon nach Tavanasa geraten, ins hinterste Bündnerland.» Gut, bringt uns da Franz Hohler mit «Gleis 4» wieder in die Stadt zurück und zwar nach Zürich Oerlikon, wo die Suche nach der Identität eines toten Mannes beginnt. Um ganz grosse Gefühle dreht sich hingegen «Was wir Liebe nennen» des charismatischen Hanser-Verlegers Jo Lendle, der uns auf eine Reise nach Montreal mit nimmt, wo wir Fe kennenlernen, mit ihr ausgestorbene Tierarten erforschen, auf dem Lorenz-Strom rudern und eine Nacht in der Wildnis verbringen. Ein weiterer «Weltensammler» kommt zu uns nach Basel mit Namen Ilija Trojanow. Der Deutsche bulgarischer Abstammung, dem heuer wegen Protesten gegen die Praktiken US-amerikanischer Geheimdienste die Einreise in die USA zu einem Germanistenkongress verweigert wurde, ist über Jahre in sein Heimatland gereist und kommt nun zurück, bepackt mit Bildern und Geschichten aus einem fast unbekannten Land, das doch mitten in Europa liegt.
In der bereits fünfjährigen Tradition sind alle Nominierten des Schweizer Buchpreises bei uns zu Gast. Ralph Dutli, Roman Graf, Jonas Lüscher, Jens Steiner und Henriette Vásárhelyi sind während dem Festival im Volkshaus Basel zu erleben. Wer von ihnen den mit insgesamt mit 40‘000 Franken dotierten Schweizer Buchpreis 2013 mit nach Hause nehmen darf, wird bei der öffentlichen Preisverleihung am Sonntagmorgen, 27. Oktober, im Theater Basel bekannt.
Und die Querbeet-Veranstaltungen? Um die Wette reden sich zum Beispiel in der Veranstaltung «3 Generationen Mundart» Daniela Dill als ganz junge Frau, Achim Parterre, bereits schon mehr als erwachsen, und der 1940 geborene Ernst Burren. Sie performen ihre Texte und erzählen, warum die Mundart sie auf ganz unterschiedliche Weise inspiriert. Überhaupt ist die Schweizer Mundart an diesem Festival endlich gut vertreten, so wie auch die Vorstellung und Förderung neuer Talente. In Kooperation mit diversen Literaturzeitschriften stellen wir am Festival vielversprechende Newcomer vor, die ihre ersten, publizierten Texte bei uns lesen.
Kommen Sie ans Festival. Grund genug gibts allenthalben!
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Die BuchBasel 2013 – eine Tour d’Horizon sondergleichen
An die diesjährige BuchBasel sind viele Gäste geladen, die uns mit auf Reisen nehmen. So entführt uns der Exil-Afrikaner Alain Manbanckou, eine der stärksten Stimmen der französischen Gegenwartsliteratur, in den Kongo, wo eine heruntergekommene Bar in Brazzaville Schauplatz von «Zerbrochenes Glas» ist. Manbanckous Blick auf die dortigen Zustände ist gnadenlos und doch voller Wärme und Humor. Ein weiterer Exil-Afrikaner ist «der bedeutendste afrikanische Romancier» (NewYork Reviews of Books) Nuruddin Farah, der sein Heimatland Somalia 1974 aus politischen Gründen verlassen musste, und seither vor Augen führt, wie Krieg, Korruption und Gewalt Menschen ihrer Menschlichkeit berauben. Auch der Serbe David Albahari stellt eine grostsk-alptraumhafte Parabel über die Sinnlosigkeit des Krieges vor: Er setzt eine Reservisten-Truppe an einem «Kontrollpunkt» aus – so auch der Name dieses Romans – und lässt sie Zeuge von traumatischem Gräuel werden, bis das Szenario unerwartet in eine TV-Reality-Show mutiert. Noch einmal Militär und noch einmal Belgrad: Jelena Volic lässt in «Kornblumenblau» ihre charismatische und symphatische Kriminologin Milena Lukin erfolgreich ihren ersten Fall ermitteln und trägt mit diesem Kriminalroman zum diesjährigen Balkan-Schwerpunkt bei.
Weiter weg zappt der koreanischen Bestsellerautor Kim Young-ha in «Ein seltsamer Verein» wild im Leben der jungen Generation Südkoreas rum und gliedert so modernes Leben in zehn kurze Thriller – abstrus und voller Erotik jeder einzelne! Auf eine introspektive Reise indes nimmt uns der Iraner Mahmud Doulatabadi in «Nilufar» mit, wo eine grosse Liebe scheitert: an den Zwängen der traditionellen Familie, am politischen System und am eigenen Unvermögen. Weiter beleuchtet die palästinensische Christin und Friedensvermittlerin Sumaya Farhat-Naser mit «Im Schatten des Feigenbaums» den Landraub Israels im Westjordanland. Bekannt für ihre deutlichen Statements und für ihren Mut zum Politischen, hat sie dennoch stets die Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikt zum Ziel. Ihre geografische Nachbarin, die israelische Historikerin Fania Oz-Salzberger, ist als areligiöse Jüdin davon überzeugt, dass Worte Wirklichkeiten zu erschaffen vermögen und dass dieser Glaube an das Wort letztlich alle Juden verbindet. Wir freuen uns sehr, sie mit «Juden und Worte» in Basel begrüssen zu dürfen, dem Buch, das in Zusammenarbeit mit ihrem berühmten Vater Amon Oz entstand.
Auch um Worte geht es in «101 Nacht» der Arabistin Claudia Ott, die vor drei Jahren eine 800 Jahre alte Handschrift entdeckte und so eine sensationelle Weiterführung der legendären Scheherazade-Erzählungen präsentieren wird. Die Nächte mit der schönen Erzählerin haben also noch lange kein Ende – nehmen Sie teil an diesem stimmungsvollen Abend mit persischer Musik!
Und einen fulminanter Abend dürfen wir im Veloladen Obst & Gemüse erwarten, wenn Ulrich Blumenbach die neue Übersetzung von Anthony Burgess› bösem Klassiker «Clockwork Orange» auflegt: Denn die beliebte «Horrorshow», ultrabrutal und 1971 von Stanley Kubricks meisterhaft verfilmt, hat nichts von seiner Brisanz eingebüsst.
Kommen Sie mit auf diese und alle anderen Reisen!
1894. Wer abends vom Berghaus Stafelalp — exakt auf 1894 Metern gelegen — den Berg hinunter Richtung Davos kletterte, kam ab 1894 unten in nie gesehener Helligkeit an. Neu waren nämlich der Bahnhof Davos-Platz und der Güterschuppen mit der Innovation «Elektrizität» bestückt, was manch Einheimischen mit enormem Stolz erfüllte.
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1900. Während der Eisenbahnbau in Graubünden euphorisch vorangetrieben wurde, rollten zeitgleich erste Automobile durch das Land. Dieses Rollen jedoch wurde als bedenklich und gefährlich eingestuft. Und so waren die Strategien der Kantone unterschiedlicher Natur, ihre Bevölkerung zu schützen. Während etwa Kantone verordneten, jedem Automobil einen Fussgänger vorausschreiten zu lassen, um vor der herannahenden Gefahr zu warnen, entschied Graubünden 1990 rigoros und kühn: «Das Fahren mit dem Automobil auf sämtlichen Strassen des Kantons Graubünden ist verboten». Ein Verbot, das für die nächsten 25 Jahren Gültigkeit hatte. Der Bevölkerung war es wohl dabei, wie die Abstimmungen der Jahre 1907 und 1911 zeigten. Und erst, als gegen Ende des Ersten Weltkrieges der Pferdemangel überhand nahm, wurde der Einsatz einiger wenig Lastkraftwagen toleriert. Nach und nach gesellten sich weitere Nutzfahrzeuge wie Krankenwagen oder Feuerwehrfahrzeuge dazu und auf Druck der Hotellerie wurde das Verbot 1915 schliesslich ganz aufgehoben. Für die Bahn waren die aber, das darf man sagen, 25 schöne Jahre!
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1910. Es muss ein heftiges Mass Regen gewesen sein, das da vom Himmel prasselte, Mitte Juni, im Jahr 1910. Die sonst zahme Landquart schwoll an — zu einem wilden Ungetüm. Legte ganze Landstriche im Prättigau unter Wasser und fegte alles hinweg, was nicht niet- und nagelfest war. Überall ragten Stumpengeleise ins Nirgendwo, kilometerweise Trassee wurden unterspült, das Schotterbett auf und davon. Und urplötzlich ward die Haltestelle Felsenbach kurz vor der Klus verschwunden von der Landkarte. — Wohl wissend, dass das wilde Wasser wieder kommen könnte, beschied die Direktion 1963, dem Fluss zwischen Seewis-Valzeina und Malans ein Schnippchen zu schlagen, und nahm den 1049 Meter langen Chlus-Tunnel in Bau.
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1918. Da im Kanton Graubünden von 1900 bis 1925 ein striktes Automobilverbot galt, wurden neben den lebendigen auch die verstorbenen Menschen mit der Rhätischen Bahn transportiert. Die Bevölkerung sei der Bahn für diese Dienste dankbar, war im Il Grigione Italiano vom 29. Mai 1918 zu lesen: «Senza che sia avventuo alcunchè di anormale, il caso volle che ieri la Ferrovia del Bernina ci trasportasse da oltre alpi le spoglie mortali di tre nostri concittadini.» Und weiter steht hier schwarz auf weiss, einmal mehr sei zu sehen, dass die Eisenbahn selbst in schmerzhaftesten Fällen nur Vorteile mit sich brächte.
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1919. Die Weichen wären für den Eisenbahnpionier und langjährigen Direktor der Rhätischen Bahn anders gestellt gewesen — hätte er doch als Spross Bündner Zuckerbäcker der Tradition folgend das Geschäft in Avignon weiterzuführen gehabt. Doch setzte der 1844 Geborene durch, ein Studium am Eidgenössischen Polytechnikum im fernen Zürich anzutreten zu dürfen. Fertig ausgebildet erlagen er und seine ganze Generation dann dem Eisenbahnfieber, das europaweit ausgebrochen war. Mit 44 wurde der Ingenieur nach Etappen im Ausland und im Eidgenössischen Eisenbahndepartement in seinen Heimatkanton Graubünden zum Oberingenieur und Betriebsdirektor für den Bau der ersten Linie Landquart–Davos berufen. Von diesem Moment an, war sein Leben untrennbar mit dem Aufbau der Rhätischen Bahn verbunden. Die Linienführungen, organisch in die Landschaft gezeichnet, die steinernen Bogenbrücken und die stilvoll gestalteten Bahnstationen trugen fortan seine Handschrift und erlangten dank ihm weltweiten Ruhm. Nach einem Viertel Jahrhundert aber, 25 erfolgreichen und dynamischen Wachstums-jahren, halbierte der Kriegsausbruch den Bahnbetrieb dramatisch. Und der Ingenieur, dem unter anderem die Ernennung zum Ehrendoktor des Eidgenössischen Polytechnikums zuteil wurde, musste diesen Rückschlag in seinem letzten Lebensjahr noch erleben. Im Nachruf von 1927 steht: «Wenn die Rhätische Bahn heute als technisches Wunderwerk vielbestaunt wird, so ist dies zu einem grossen Teil das Verdienst von Dr. ing. Achilles Schucan.»
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1930. Nur schon sein Name verrät die Goldenen Zwanzigerjahre — das nobel französiche Glacier kombiniert mit dem kühnen Express. Die erste Fahrt des Gemeinschaftsprojekts von RhB, Furka-Oberalp-Bahn und der Visp-Zermatt-Bahn, welches an die Tradition der Luxuszüge anknüpfte, fand am 22. Juni 1930 statt. Zehn Stunden dauerte die sommerliche Fahrt von Zermatt nach St. Moritz und führte über 291 Bücken und durch 91 Tunnels. Selbst RhB-Direktor Gustav Bener war mit von Partie — und zwar gleich im eigenen Salonwagen. Bener, ursprünglich Ingenieur, war ein wichtiger Mann für die RhB. Massgeblich beim Aufbau der Chur–Arosa-Bahn involviert und zeichnete er später alleine für die Ausgestaltung der Albulalinie verantwortlich. Leider aber auch für den schmerzlichsten Stellenabbau in der Geschichte des Unternehmens, als mit Einzug der Elektrizität 700 von 1400 Stellen überflüssig wurden.
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1932. Imposant schwebt das Luftschiff Graf Zeppelin auf über den Bündner Herrschaften — es könnte um den 23. März 1932 gewesen sein — und bringt selbst den fortschrittlichsten Mann zum Staunen. So auch Peter Augustin, der legendäre Zugführer der Rhätischen Bahn. Um das technische Wunder LZ 127, diese himmlische Konkurrenz, ausgiebig zu bestaunen, lässt er seinen Zug 58 in Solis kurzerhand stehen und begründet die verzögerte Weiterfahrt später mit: «Solis, 5 Minuten Verspätung, Kreuzung mit Graf Zeppelin».
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1943. Die zahlreichen Polnischen Landsleute, die während des Zweiten Weltkrieges in der Schweiz interniert waren, wurden von der Bevölkerung so gut aufgenommen, dass sich die Regierung sogar veranlasst sah, ein Heiratsverbot zwischen Polen und Schweizerinnen auszusprechen. Natürlich aber entluden sich auch hier und da Konflikte, wie dieser Vorfall zwischen einem Schaffner und Lagerarzt Dr. Puchalski. Er sei ungerechtfertigt respektlos behandelt und zudem als «dieser Pole» tituliert worden, so Puchalskis echauffierte Beschwerde. Was die RhB, stets um politische Korrektness bemühte, freundlich neutral quittierte: «Wir möchten es deshalb nicht unterlassen, gegenüber dem Beschwerdeführer unser lebhaftes Bedauern über den Zwischenfall auszusprechen. Mit vorzüglicher Hochachtung: Der Betriebschef.»
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1951. Es liegt viel Schnee auf der Alp Grüm an diesem 3. Januar. Von der Terrasse des steinernen Stationsgebäudes aus der Ausblick spektakulär, über das Tal hinweg sind die Bergamasker Alpen zu sehen. Still ist es, bis eine Lawine, just im Moment, als der Treibwagen Abe 4/4 9 und ein Spurpflug durch die 180°-Kurve einfahren, ins Tal kracht, den Zug erfasst, ihn hundert Meter in die Tiefe reisst und den Bahnmeister dabei ums Leben bringt. Glaubte man früher, Lawinen würden von Hexen oder Geistern ausgelöst oder wären eine Strafe Gottes, werden sie heute wissenschaftlich durch Modellversuche im Labor und auf dem Gelände erforscht, so auch im Institut für Schnee- und Lawinenforschungen in Davos. Und dank neuesten Erkenntnissen und Präventionsmassnahmen der Bahn, ist noch kein Fahrgast umgekommen.
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1955. Stand zu lesen in der Mittagsausgabe der Neuen Zürcher Zeitung: «An einem der letzten, so selten schönen Tage fuhr ich früh morgens mit der Berninabahn von St. Moritz nach Poschiavo. Der gar nicht sommerlichen Temperatur wegen blieben die Fenster sorgfältig geschlossen, und so war die Luft im Wagen schon bei der Abfahrt des Zuges dank den Bemühungen eines Rauchers und eines halben Dutzends Raucherinnen zum Anbeissen. […] Der Kondukteur lud mich aber ein, im anstossenden leeren Abteil 2. Klasse Platz zu nehmen, was ich dankend annahm. Leider wurde auch hier meine Freude an der Fahrt bald gedämpft; denn schon in Pontresina stiegen zwei offensichtlich passionierte Raucher ein. […] Doch was geschah? Auf einmal hatte der Kondukteur sich ein Herz gefasst und erklärte jedem der Raucher einzeln und diskret die Situation und bat sie, das Rauchen einzustellen. Dies wirkte Wunder! Mit diesem Schreiben möchte ich dem für seine Fahrgäste so besorgten Kondukteur nochmals herzlich und öffentlich danken, gleichzeitig aber auch die Verwaltung der Rhätischen Bahn anfragen, ob es nicht doch angezeigt und möglich wäre, auch den nichtrauchenden Reisenden in für sie reservierten Wagenabteilen den unbeschwerten Genuss einer Fahrt auf dieser schönen Strecke zu verschaffen.»
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1971. Der Streckenwärter aus Preda kennt seine Geleise, Meter für Meter, jede Schwelle, jeden Stein. Alle 60 Zentimeter schiebt er losen Schotter unter die Schwellen und schmiert die Eisen, um Entgleisungsgefahr, Abnützungen und Kurvenkreischen zu verringern. Bis weit in den Frühling hinein schaufelt er Schnee in die Tunnels, um Vereisungen zu verhindern, die früher mühsam weggepickelt wurden. Wäre sein Sohn heute Streckenwärter, würde er Verkehrswegebauer heissen und der intensiven Zugfrequenzen wegen nur nachts unterwegs sein. Die Liebe zu den Geleisen aber, wäre wohl die gleiche —
((Konzeption des fragmentarischen Buchaufbaus und Redigieren des Textes von Ursula Eichenberger))
Meine Beine baumeln vom Coiffeurstuhl, die Hände liegen auf einer karierten Wachsschürze, es riecht nach Shampoo und Haarspray. Ich bin aufgeregt und voller Vorfreude. Endlich ist mir gelungen, Mama zu überreden, mir die Haare schneiden zu lassen. Keine Frisuren mehr, keinen Rossschwanz, keine Zöpfe, Haarspangen, keine Bändchen mehr und dergleichen. Kurz, ganz kurz soll das Haar werden, eigentlich am liebsten ein Bürstenschnitt. Doch die Friseuse will mir partout keinen Stufenschnitt schneiden. So schöne glatte schwarze Haare, das wäre doch jammerschade! Sie fuchtelt mit Schere und Kamm durch die Luft und murmelt etwas von aufgeföhnt und passend zu einem Kinderköpfchen. Mir bleibt nichts anderes, als mich auf einen Kompromiss einlassen; ich glaube aber noch immer, dass mein Plan aufgeht. Ich bin vier Jahre alt und ich weiß genau: Buben und Mädchen unterscheiden zwei Dinge – die Länge der Haare und ein Zipfeli zu haben oder eben nicht. Während meine kürzeren Haare geföhnt werden, frage ich meine Mutter, ob es jetzt endlich so weit sei und ich nun auch ein Zipfeli kriege. Mein Plan ist nicht, über einen Penis zu einem Buben zu werden. Ein Bube bin ich schon. Als das fühle ich mich, seit ich denken kann. Doch ich bin eben ein Bube mit langen Haaren und ohne Penis. Ich will aber ein Kind sein mit Penis. Der ist bei mir leider vergessen gegangen. In meiner Vorstellung bin ich einfach mit den falschen Geschlechtsorganen zur Welt gekommen. Aber das lässt sich beheben. Im Lärm des Föhns versteht Mama meine Frage nicht. Schließlich schaltet die Coiffeuse das Gerät aus, was meinem Nachhaken noch mehr Gewicht verleiht. Mama, kriege ich nun auch ein Zipfeli? Stille. Das erschrockene Gesicht meiner Mama werde ich nie vergessen. Nach einer Pause lacht sie verlegen. Nein, nein, mein Liebes, wo denkst du denn auch hin? Meine Welt bricht zusammen.
1968
Neuland. Es ist ein Sprung ins Wasser, ohne zu wissen, ob ich überhaupt schwimmen kann. Doch ich sehe mich selbst als Mann. Ganz klar. Diese Vorstellung weckt Vorfreude. Ich werde mich wohlfühlen in meinem veränderten Körper. Aber wie wird das Umfeld reagieren? Wird man mich als Mann wahrnehmen und akzeptieren? Werde ich überhaupt so männlich aussehen, dass die Leute mich als Mann erkennen? Was mache ich, wenn ich keinen Bart bekomme? Was mache ich, wenn ich keinen Bart bekomme und dafür eine Glatze? Wenn die Stimme hoch bleibt und ich aussehe wie ein schlechter Transvestit*? Renne ich nicht einfach einer Idealfigur nach? Ich versuche, ein Problem aus der Welt zu schaffen und kreiere zwanzig neue. Zweifel über Zweifel. Ich habe riesige Angst, einen nicht wiedergutzumachenden Fehler zu begehen. Ich habe Angst, dass ich dem, was auf mich zukommt, nicht gewachsen bin, Angst, dass mich der Mut verlassen könnte und ich in mein altes Leben zurückkehren möchte. – März 2010 – Ein lauer Sommerabend, die Luft schwirrt, Mücken tanzen in den letzten Sonnenstrahlen, Grillen zirpen, das Gras ist frisch gemäht. Ich stehe mit meinem Lieblingscousin, seinem Bruder und meinem Onkel auf dem Feld. Mein Onkel ist Bauer und sein Hof für mich ein Paradies. Stoppeln und Halme zwicken mich heftig in die nackten Fußsohlen, doch ein Indianer kennt keinen Schmerz. Ich fühle mich rundum aufgehoben in dieser Männergruppe, habe meine kurzen dunkelgrünen Lieblingshosen an, spüre die Sonne auf meiner nackten Brust. Ich bin eins mit meinem Leben. Da beschließt mein Onkel, in den Bach zu pinkeln. Gleich darauf machen es ihm meine beiden Cousins nach. Das kann ich auch! Ich knöpfe meine Hose auf und will sie gerade ausziehen, als mein Onkel interveniert und mich mahnt, ich dürfe das nicht tun. Bettina, du bist doch ein Mädchen!
1972
Mein neues Gesicht. Es ist kantiger, wirkt friedlich, freundlich und frisch. Ich sehe mich plötzlich so, wie ich bin. Ja, das bin ich, das ist meine Seele, die sichtbar wird! Ich betrachte mich im Spiegel, schaue alte Fotos an, nehme Abschied von der Bettina. Das neue Gesicht gefällt mir. Ich habe das Gefühl, mein Charakter komme endlich zur Darstellung. Auf diesem Gesicht zeichnet sich mein Inneres ab. Mein Inneres, das so lange in der falschen Hülle steckte. Gleichzeitig verschwindet auch die Frau aus dem Gesicht. Das Weibliche, an das ich mich gewöhnt habe, verblasst. Das Testosteron wirkt. Und wie! Der ganze Körper verändert sich; die Schultern werden breiter, die Arme kräftiger, auf dem Bauch beginnen Haare zu sprießen und die weiblichen Fettpolster an den Hüften werden kleiner. Ich schaue an mir herunter und habe endlich das Gefühl, ich selber zu werden. Letztmals fühlte ich mich vor meiner weiblichen Pubertät so heimisch in meinem Körper. Mit zwölf, dreizehn aber wurde alles neblig um mich herum, unwirklich, der Realität entrückt. Je länger je weniger gelang es mir, meinen Körper und die Welt um mich herum zu spüren.
Mai 2010
Die Transidentität ist ein ganz schambehafteter Teil in mir. Er ist tief in mir vergraben, macht sich aber immer wieder bemerkbar und nimmt mit der Zeit etwas Monströses an. Da bedroht mich etwas, das ich im Zaun halten und verbergen muss. Ich bin eine Missgeburt. Das zumindest will uns die Wissenschaft bis zu einem gewissen Grad weismachen: Transmenschen sind etwas Abnormales. Ich studiere Medizin und muss zur Kenntnis nehmen, dass die Wissenschaft Transmenschen als psychisch krank stigmatisiert – konkret als Menschen mit einer Persönlichkeitsstörung zwischen Borderline*-Typ und Psychose. Ich wandle durch die Gänge der medizinischen Bibliothek, verschlinge alles über Transidentität, das mir in die Finger kommt, sammle Stück für Stück Informationen zusammen, lese psychiatrische Abhandlungen, bin wie elektrisiert, mache mich über die Geschlechtsumwandlungen schlau, betrachte Bilder geschlechtsangleichender Operationen und sehe all diese hilflosen Versuche eines Penisaufbaus. Das alles ist komplett neu für mich. Es ist interessant und zugleich auch sehr abstoßend. Während ich zu Beginn noch ganz aufgeregt bin über die Möglichkeit, als Frau eine Geschlechtsanpassung machen zu können, bin ich über die dokumentierten Ergebnisse bitter enttäuscht. Schnell wird mir klar: Viel lieber in einem intakten und gesunden Frauenkörper leben als mir solche Verstümmelungen zufügen.
1986
Ich war das Küken im Team, als Bettina auf unsere Station kam. Wir teilten uns ein Büro. Bereits am ersten Abend war klar: Diese Frau hat Power, sie zögert nicht. Sie weiß genau, wo es langgeht. Mit allen Fragen konnten wir jungen Assistentinnen zu Bettina gehen. Sie hatte Erfahrung, eine klare Haltung und war rundum hilfsbereit. Ich bete dafür, eine richtig schöne sonore Männerstimme zu bekommen. Bitte, lass mich einen richtigen Stimmbruch haben. Meine Patientinnen merken im Moment noch nicht viel. Die Stimme ist etwas heiser – tut mir leid, nichts Gravierendes, ich habe gerade eine Erkältung hinter mir. – Und wenn ich mich konzentriere, kann ich sie bei Bedarf noch gut in der Höhe halten. Doch in einigen Monaten werde ich nicht mehr als Frau Doktor Bettina Flütsch in der Frauenklinik auftauchen, Visite machen, untersuchen und operieren. Nein, auf meinem Namensschild wird dann Dr. Niklaus Flütsch stehen.
Juni 2010
Mama schafft es nur einmal, mir ein Kleid anzuziehen. Zuvor hat sie mich unzählige Male gebeten, doch nur einmal eines zu tragen. Ihr zuliebe. An diesem Tag kommt sie mit einem grün karierten Faltenrock in mein Zimmer. Ich schließe innerlich die Augen, beiße die Zähne zusammen. Der Rock hört knapp über meinen immer etwas zerschlagenen, kräftigen Knien auf. Dazu trage ich blaue, handgestrickte Socken. Der Rock ist völlig unpassend, wie eine Faust aufs Auge. Aber ich will Mama nicht schon wieder enttäuschen – schließlich ist sie meine Mutter, sie schenkt mir ja auch immer etwas zum Geburtstag und zu Weihnachten, und sie hat mich sehr lieb. Also kann ich ihr ja auch etwas zurückschenken. So trabe ich in diesem Aufzug zur Schule. Doch ich fühle mich unendlich unwohl; es ist sonnenklar, dass ich einfach in den falschen Kleidern stecke. Einen halben Tag lang beherrsche ich mich und halte durch, Mama zuliebe. In der Mittagspause spurte ich heim und erkläre, in meinem Leben nie wieder einen Rock oder Kleid zu tragen. Nie mehr! Nie wieder!
1973
Das Festgelände sehe ich noch vor mir. Bettina war drei, vier Jahre alt, rannte zwischen den Bänken hin und her. Irgendwann kam sie mit Tränen in Augen und einem Jungen im Schlepptau zu meiner Frau und mir. Da erklärte uns der Bube: Er hat den Kopf angeschlagen. – Schlagartig hörte Bettina auf zu weinen. Als Junge durchzugehen, war für sie das Größte. Als ich mich von meiner letzten langjährigen Partnerin trennte, war ich überzeugt, später als Niklaus eine heterosexuelle Beziehung zu Frauen zu führen. Nun aber, nachdem klar geworden ist, dass ich als Mann auf Männer stehe, kommt die nächste große Hürde. Ich merke, dass es mir viel schwerer fällt, meiner Mutter zu sagen, ich sei in einen Mann verliebt, als sie über meine Transidentität zu informieren. Wie erklärt sie sich, dass ich als Bettina Frauen liebe und als Niklaus Männer? Vermutlich denkt sie: Meine Tochter, mein Sohn lässt wirklich nichts aus!
April 2012
Natürlich fiel uns auf, dass manches etwas anders war als bei anderen Mädchen. Aber diese Eigenarten gehörten einfach zu unserer Bettina. Sie sagte immer, sie wolle einmal ein Doktor werden. Sie kämpfte für kurze Haare, hasste Mädchenkleider, bestand darauf, mit dem fellbezogenen Tornister ihres Großvaters in die Schule zu gehen. Meine Ex-Frau und ich nahmen das alles nicht so ernst, das gibt es ja ab und zu bei Kindern. Sorge machte uns dann ihre Magersucht. Sie hatte ihre Fröhlichkeit verloren, war bedrückt. Weil wir nicht weiterwussten, suchten wir Rat bei einem Psychologen; doch das brachte nicht viel. Wir warteten ab und hofften, es werde wieder besser. Und wir nahmen Rücksicht, versuchten Bettina zu schonen und sie nicht zu bedrängen. ((…))
((Auszug aus www.koninordmann.ch))
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1948. Die Modistin Sydonie Basler lernt René G. Nordmann am 3. September kennen. Am 11. Juli 1950 heiraten sie und gründen eine Familie. Am 25. Juli 1963, ein gutes Jahr nach der Geburt ihres vierten Sohnes, Koni Nordmann, stirbt Sydonie an Krebs.
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1951.Fotografie ist zuhause von jeher ein Thema. René G. Nordmann, Propagandachef bei der Swissair, bereist ab 1946 sämtliche Swissair-Destinationen. Dabei fotografiert er leidenschaftlich. Seine Fotografien werden oft publiziert — manchmal neben Werbebildern, die er René Burri, Georg Gerster oder Emil Schulthess in Auftrag gibt.
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1966. Ruth Basler, Sydonies jüngere Schwester, ist mit der Familie Nordmann eng verbunden. Nach Sydonies frühem Tod verabschiedet sich Ruth Basler von ihrer beruflichen Karriere und setzt sich für die Familie ein. Als Tante und zweite Ehefrau von René G. Nordmann zieht sie ihre vier Adoptivsöhne auf.
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1978. Die von der Stadt finanzierte Jugendzeitung «21i» ist Alma Mater vieler Zürcher Medienschaffender. Sie greift nicht nur brisante Themen für die Jugendlichen auf, sondern bietet auch die Möglichkeit, in den Journalismus einzusteigen. Koni Nordmann beginnt mit sechzehn Jahren seine ersten Gehversuche in Wort und Bild.
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1983. Fred Ritchin, ehemaliger Bildchef des NEW YORK TIMES MAGAZINE, hat gerade eben die Studienleitung Dokumentarfotografie am International Center of Photography übernommen, als Koni Nordmann mit dieser Ausbildung beginnt. Ritchin erweist sich als aussergewöhnlicher Didakt und Kritiker. Bis heute ist diese Zeit für die fotografische, unterrichtende und verlegerische Tätigkeit von Koni Nordmann prägend.
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1984. Von Hugo Lötschers Kurzgeschichte zur amerikanischen Freiheit inspiriert, fotografiert Koni Nordmann während seines Studiums die Statue of Liberty, die derzeit gerade renoviert wird. Die Bewilligung für das Fotografieren auf dem Baugerüst ist erst mit einem Versicherungsnachweis über eine Millionen US-Dollar möglich. Schliesslich gelingt Koni Nordmann das Bild eines Bauarbeiters, der die Stirn der Statue küsst. Das Bild wird zur Ikone; Ronald Reagen beginnt die Einweihungsrede der fertig renovierten Statue mit den Worten: «Many of us have seen this picture […] Tony Soraci, the grandson of immigrant Italians …»
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1988. Ende der Achzigerjahre ist die Schweiz das Land mit der proportional höchsten HIV-Infektionsrate. Drei Jahre lang begleitet Koni Nordmann den ersten Aidspfarrer Europas, Heiko Sobel, durch seinen Arbeitsalltag. Aus diesem Langzeitprojekt entstehen ein Buch und eine Ausstellung, die viel mediales Echo erfahren. «Ich kann nicht mehr leben wie ihr Negativen» wird mit dem Bundesstipendium für angewandte Kunst ausgezeichnet.
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1991. Die Welt blickt Richtung Naher Osten, der zweite Golfkrieg ist Tagesthema. So auch auf der Redaktion des ZEIT MAGAZINS in Hamburg. Es entsteht die Idee, eine Geschichte über superreiche Araber zu machen, deren Geld auf Schweizer Nummernkonti liegt. Was schnell und gut angedacht ist, ist für den schreibenden Journalisten anspruchsvoll und für den Fotografen nur schwer umsetzbar, denn es erweist sich als praktisch unmöglich, einen Zugang zu Arabischen Upperclass zu finden.
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1993. «Angels in America» war das erste Bühnenstück im Theater am Neumarkt der neuen Intendanten Volker Hesse und Stephan Müller. Hesse und Müller, die das Theater von 1993 bis 1999 erfolgreich führten, liessen Koni Nordmann jährlich etliche Produktionen dokumentieren. Als Krönung dieser Zusammenarbeit entsteht das Neumarkt-Buch «Das Beste kommt noch» mit Koni Nordmann als Verleger.
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1997. Die Inszenierung «Top Dogs» von Urs Widmer handelt von gestürzten Top-Managern, die sich in einer Outplacement-Firma neu erfinden müssen. Das Stück über Identität wird zum meistgespielten zeitgenössischen Theaterstück im deutschen Sprachraum. Koni Nordmann, der seit Jahren am Theater Neumarkt fotografiert, dokumentiert auch «Top Dogs», kann jedoch diese Reportage nicht so publizieren, wie er es möchte. Kurzentschlossen wird deshalb ein Verlag gegründet: Die freie Journalistin Ursi Schachenmann, der Fotograf Martin Peer und Koni Nordmann starten mit der KONTRAST AG. Ihr erstes Buch, gestaltet von Alberto Vieceli, wird prämiert, viel besprochen und gut verkauft.
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1999. Gut Ding will Weile haben — nicht immer. In nur sechs Wochen wird ein Buch über die sechs erfolgreichen Jahre des Duos Hesse/Müller am Theater am Neumarkt produziert. Nach Stichworten alphabetisch sortiert, werden «Auszeichnung», «Beschwerdebrief», «City-Nights» und «Dramen» aneinandergereiht. Das Impressum steht der Logik des Buches entsprechend mittendrin unter «i». Parallel dazu werden die Hör-Höhepunkte auf einer Audio-CD festgehalten und ins Buch integriert.
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2001. Nach erfolgreichem Start des Ausbildungslehrgangs «Pressefotografie» werden auf den Redaktionen Stimmen nach einer Ausbildungsmöglichkeit für Bildredakteure laut. Koni Nordmann initiiert so seinen zweiten Studiengang am MAZ (Die Schweizer Journalistenschule). Die Ausbildung «Bildredaktion» funktioniert analog der «Pressefotografie» im Workshopsystem mit integriertem Praktikum. Diese Ausbildung bietet das MAZ bis heute weltweit als einzige Institution an.
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2003. Die WOZ lädt nach der Lancierung ihres Redesigns unterschiedliche Spezialisten zur Blattkritik ein. Die Kritiken werden wöchentlich in der Zeitung publiziert, so auch Koni Nordmanns Beitrag zum guten oder schlechten Bild.
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2007. So, wie es mehrere Reisen brauchte, bis Markus Bühler-Rasom die Bilder für seine Dokumentation «Ernährung in Grönland» bereit hatte, braucht es auch mehrere Etappen zur Realisation des Buches INUIT, das im Verlag KONTRAST erscheint. Das Material wird gesichtet, geordnet, gruppiert, wieder verworfen und erneut geformt. INUIT hat Monate der Reifung hinter sich, bis der Bildband mit ausklappbaren Panoramas und integriertem Tagebuch steht.
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2008. «Mit der schwierigen Erinnerung in der sicheren Fremde» ist ein Projekt der Journalistin Martina Kamm und des Fotografen Meinrad Schade. Es porträtiert Folteropfer, die überlebt haben und heute in der Schweiz leben. Um diese sensible Arbeit adäquat auszustellen, entscheidet sich Kurator Koni Nordmann für eine Rahmung und Hängung im Stil privater Familienbilder. Parallel zur Ausstellung produziert KONTRAST den Ausstellungskatalog als Zeitung.
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2008. Der BLICK gerät schwer unter Druck. Gratiszeitungen überschwemmen die Städte, und immer weniger Leser sind bereit, am Kiosk zwei Franken für die Boulevardzeitung zu bezahlen. RINGIER beschliesst einen Relaunch. Neu soll dem Bild ein höherer Stellenwert einberaumt werden. Koni Nordmann begleitet den Relaunch über 15 Monate. Die Dokumentation seiner Arbeit wird beim 5. Medien-Award für Qualitätsjournalismus präsentiert.
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2010. Das im Verlag KONTRAST zum 100-Jahr-Jubiläum von Pro Natura erschienene Buch wird in Leipzig mit der Silbermedaille als das zweitschönste Buch weltweit ausgezeichnet. Das Zusammenspiel von Auftraggeber, Projektverantwortlichen, Gestalter, Fotograf, Lithograf, Drucker und Verleger hat Früchte getragen.
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2012. Koni Nordmann kommt der Initiative der Bildredaktorin Dorothee Hauser nach und konzipiert mit ihr zusammen einen Workshop an der Uni Sarajevo, den sie gemeinsam vor Ort durchführen. Den Studierenden der Fakultät Journalismus wird das Basiswissen für den Umgang mit Fotografie vermittelt; sie eignen sich Grundkenntnisse im Editieren sowie im bildnerischen Erzählen an. Bei all ihren Arbeiten ist der Krieg omnipräsent — und das, obwohl die Studierenden ausschliesslich aus der «Second-Generation» stammen.
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2013. Eine neue Zeitung wird lanciert. Die «Ostschweiz am Sonntag» der NZZ-Gruppe. Koni Nordmann ist während 56 Ausgaben — von der Lancierung bis Ende März 2014 — verantwortlich für die Teams Fotografie, Bildredaktion, Layout und Infografik. Als Gestalter entwickelt er neue Formen und Formate. Nach neun Monaten zeichnet der «15. European Newspaper Award» acht Seiten der «Ostschweiz am Sonntag» mit vier Awards für Innovation, Konzept und Layout aus.
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2014. Koni Nordmann wird vom Tages-Anzeiger abgeworben und beginnt Mitte Mai seine Tätigkeit als Bildchef der Tageszeitung. Es gilt, den Umgang mit der Fotografie im Online und Print zu stärken. Für Koni Nordmann ein Heimspiel.
Smart Economy bedeutet, sich am Puls der Zeit zu orientieren und den Herausforderungen von morgen gut aufgestellt zu begegnen. In dieser Ausgabe [sic] geben wir Unternehmern Impulse, wie Sie sich für die Zukunft fit machen können. Und Ihnen als Arbeitnehmerin oder Arbeitnehmer zeigen wir auf, wie Sie selbstbestimmt und erfolgreich Ihre Karriere anpacken. Wir denken über die Fragestellungen zum Arbeitsmarkt von morgen nach und finden Antworten, wie Sie sich klug positionieren können, um die Wirtschaft aufzumischen. Denn es gilt, am internationalen Wettbewerb — trotz eingeschränkter Personenfreizügigkeit — funktionsfähig teilzunehmen. Wir müssen unseren Standort stärken, weiterkommen, unsere Positionen mutig vertreten und mit solidem Risikomanagement möglichen Gefahren frühzeitig entgegentreten. Das Erfolgsgeheimnis für den Wirtschaftsstandort Schweiz ist und bleibt, unser Wissen zu teilen, auf konstante Weiterbildung zu setzen, und so mit dem gesellschaftlichen Wandel Schritt zu halten. Denn sicher ist, dass für jeden Akteur der Wirtschaft — egal ob Firmen oder Mitarbeitende — lebenslanges Lernen zum Imperativ geworden ist. Also erkennen wir unsere Chancen und packen wir sie.
Smart ist, schlank zu sein und beweglich zu agieren.
Unternehmen und ihre Mitarbeitende müssen künftig schlank und beweglich sein. Schlanksein macht Sinn, aber was bedeutet das genau? Auf Unternehmen bezogen heisst es, sich von übermässiger Bürokratie zu verabschieden, Unternehmens-strukturen mit vielstufigen Hierarchien in schlanke Organigramme umzubauen, fixe Abläufe zu hinterfragen und neue Formen wie spartenübergreifende Teams oder flexible Arbeitsorte auszuprobieren. Gefragt ist eine Unternehmensphilosophie, in der Veränderung und Bewegung an der Tagesordnung sind. So ist es ratsam, alle überflüssigen Abläufe zu streichen, mit den Ressourcen noch sparsamer umzugehen und konsequent schlankere Lösungen zu suchen. Als Unternehmer müssen Sie sich selbst bewegen und Ihre Mitarbeitenden dazu motivieren, stets weiterzukommen. Konkret: Fördern Sie die innerbetriebliche Weiterbildung, fördern Sie die Selbstkompetenz Ihrer Teams. Erkennen Sie das Potenzial von Lernenden und älteren Mitarbeitenden, Teilzeit arbeitenden Vätern oder alleinerziehenden Müttern und setzen Sie die Menschen dort ein, wo deren Stärken liegen. Schaffen Sie als Verantwortlicher flexible Spielregeln, damit Ihre Mitarbeitenden sich entfalten können. Hierfür bedienen Sie sich unterschiedlichster Instrumente — wie Einzelcoachings, Seminaren zu praxisrelevanten Themen und Teamschulungen. Motivieren Sie Ihre Mitarbeitenden zum lebenslangen Lernen — und gehen Sie mit gutem Beispiel voran, denn Lernen und Weiterkommen ist eine wunderbare Erfahrung! Gruppieren Sie Ihre Mitarbeitenden in flexible Teams, damit kein Gefühl von Stagnation und oder Rückschritt aufkommt. Und muten Sie Ihren Leuten auch Aufgaben ausserhalb von angestammten oder angestaubten Kernkompetenzen zu. Gehen Sie positiv kompetitiv an den Start, ohne Angst vor Veränderung.
Smart ist, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen.
Im 19. Jahrhundert war der Liberalismus die wichtigste politische Bewegung: Der Einzelne kämpfte sich gegenüber dem Staat frei und besann sich auf die eigenen Bedürfnisse. Heute rückt das Individuum einmal mehr ins Zentrum — nun aber nicht politisch, sondern wirtschaftlich. Design your Life heisst das Gebot der Stunde. Das Potenzial des Einzelnen steht künftig im Mittelpunkt — privat wie auch im Geschäft. Spannend an dieser Fokusverschiebung ist, dass sie nicht aus ökonomischen Überlegungen resultiert, sondern dass die Konzentration auf das Persönliche einem gesellschaftlichen Druck folgt. Das kollektive Bewusstsein ist sich nämlich einig, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Seit dem Milleniumswechsel hat diese Neuausrichtung gegärt und dank sozialen Medien und Bewegungen wie der Occupy Wall Street in letzter Zeit deutlich an Tempo gewonnen. Die Folge ist, dass jetzt alle, auch Organisationen und Unternehmer, sich dieser Neuausrichtung anschliessen müssen, denn der Mensch ist die neue Währung. Das Individuelle rückt in den Mittelpunkt. Für das Geschäftsleben heisst das: Der Fokus zielt auf den Mitarbeitenden, der nun sein Potenzial wahrnimmt. Er beginnt, Visionen zu entwickeln und Wünsche deutlich zu formulieren. Mitarbeitende zeigen auf, wie sie das Arbeitsleben künftig gestaltet haben möchten. Sie reden mit und prägen die Unternehmen durch ihre Kreativität und selbstbewusste Eigeninitiative. — Und jetzt? Jetzt sind die Vorgesetzten gefordert. Sie müssen den neu angemeldeten Bedürfnissen Gehör schenken und diese auch unterstützen. Teilzeit-Arbeitsmodelle, Weiterbildung, Chancengleichheit, faire Partizipation am Unternehmenserfolg und Homeoffice werden zur Selbstverständlichkeit. Familie und Beruf müssen für Mütter und Väter vereinbar sein, Kinderbetreuungsangebote werden Unternehmersache — und auch für Wünsche wie ein Sabbatical muss es Raum geben. Kurz und gut: Das Leitmotiv für alles Denken und Handeln wird künftige die Zufriedenheit des Individuums sein, denn an der Summe der Einzelleistungen bemisst sich der Geschäftserfolg.
Smart ist, auf neue Formen der Reputation zu setzen.
Wer also langfristig punkten will, muss sich bewusst und positiv positionieren. Das gilt für Mitarbeitende wie auch für Unternehmen. Primär erzielen beide einen guten Leumund durch die erbrachte Leistung — also letztlich dadurch, dass sie die geweckten und in sie gesetzten Erwartungen erfüllen oder sogar übertreffen. Überdies können Unternehmen durch eine starke Markenführung, Präsenz auf sozialen Netzwerken und ein schlüssiges, glaubwürdiges Kommunikationsverhalten punkten, derweil sich Mitarbeitende durch Fairness, Hilfsbereitschaft, Partizipation an Wissen und integrem Handeln einen guten Ruf erwerben. Beide müssen ihrem engsten Kreis jederzeit Sorge tragen — denn die Reputation wird letztlich über den Power der Basis erzeugt. Über die eigenen Mitarbeitenden, die eigenen Freunde, Bekannten, die Kollegen. Man könnte sagen, dass das neue Befindlichkeitsbarometer die Bilanz der Ausseneinschätzung ist. Analog zu den Likes in den sozialen Medien. Glaubwürdigkeit oder Attraktivität werden messbar. Jederzeit, überall. In dieser Form tut man aber nicht nur Einzelpersonen sein Gefallen oder Missfallen kund, auch Unternehmen werden immer transparenter bewertet. So zum Beispiel auf www.kununu.com, wo eine halbe Million Menschen an der Beurteilung von mehr als 150’000 Firmen mitwirken. Karten auf den Tisch, heisst das Gebot der Stunde. Denn neben messbaren Fakten wie Lohn oder Arbeitsstunden diskutiert die vergleichsfreudige Öffentlichkeit auch über Softfacts, allen voran über die soziale Verantwortung von Unternehmen. Im Gegensatz zu früher sind hier die Zwischentöne lauter geworden. So verbessert sich die Reputation einer Unternehmung deutlich, wenn sie sich in Sachen Chancengleichheit oder Nachhaltigkeit engagiert. Fundamentale ethische Werte wie die Gleichheit von Ethnien und Religionen, Gesundheit und Behinderung, Familienleben oder sexuelle Ausrichtung — alles wird bedeutsam. Auch, wie sich Organisationen für ökologische Belangen einsetzen, zählt mehr und mehr. So werden die Verminderung der CO2-Bilanz oder ein gemeinnütziges Engagement immer stärker gewichtet – und ein offiziell unterschriebener Ehrenkodex kann für das Unternehmen Gold wert sein. Vielleicht bald schon mehr sogar als ein technologischer Vorsprung! – Engagieren Sie sich also für Ihre pensionierten Mitarbeitenden und besuchen Sie diese in Altersheimen. Stellen Sie Arbeitszeit für das Coaching von Lernenden zur Verfügung und motivieren Sie sich selbst für einen Seitenwechsel oder helfen Sie bei städtischen Projekten mit. Lassen Sie Ihr Auto zuhause und setzten Sie Stromsparlampen ein. Und nicht zu unterschätzen: Tue Gutes und sprich darüber! Zeigen Sie Ihre guten Taten. Erzählen Sie Ihren Chefs, Kollegen, Kunden oder Partnern von Ihrem Engagement. Rapportieren Sie selbstbewusst — denn es geht hier um Ihre Reputation!
Smart ist, den Gewinn in Innovationen umzumünzen.
Angestrebt wird eine Positivspirale, die dank Gewinn neues Wachstum zulässt. Kluge Unternehmerinnen oder Unternehmer investieren also permanent in technische Innovationen und streben ein profitloses Hyperwachstum an. Übersetzt heisst das: Sie investieren in die Zufriedenheit ihrer Mitarbeitenden und in die Förderung neuer Talente. Dasselbe gilt für Arbeitnehmende: Sie stellen eigene Mittel bereit für das persönliche Weiterkommen, die Aneignung von neuem Wissen, für eine grössere Selbstkompetenz. Sie investieren also in sich selbst, um bei erhöhtem Arbeitsdruck mit Elan mitzuhalten. Sie lernen Sprachen, gestalten Ihren persönlichen Freiraum, investieren Zeit und Kraft für ausserberufliche Engagements und lernen in Netzwerken Gleichgesinnte kennen. So treffen sich zum Beispiel monatlich junge Berufsleute in der neuen Business-Lounge des KVZ. Der Gewinn dieser Treffen ist beispielsweise das Learning aus Inputreferaten und der Austausch mit spannenden Menschen.
Smart ist, neue Ideen und Produkte basisorientiert
voranzutreiben. Der Ansatz ist so einfach wie vernünftig: Dienstleistungen oder Produkte werden von der Basis getestet, wodurch Leerläufen entgegengewirkt wird. Waren vor wenigen Jahren noch Forschung und Produkteentwicklung streng bewachter Gral jeder Unternehmung, treten Produkteentwickler heute mit neuen Ideen nach aussen. Sie lassen ihre Erfindungen auf webbasierten Plattformen als Crowdsourcing oder Crowdtesting bewerten – und demokratisieren so die Marktforschung. Das Sammeln von Ideen und das Überprüfen derselben wird neu den Konsumenten anvertraut. Diese Testpersonen, Prosumenten genannt, bringen sich ein und werden je nach Ausgestaltung des Verhältnisses in die Forschungs- und Entwicklungsprozesse regelrecht miteinbezogen. Fairerweise verdienen sie auch daran. Und die Unternehmen profitieren, indem sie künftig noch besser auf Kundenwünsche abgestimmt produzieren. Starke Firmen wie die Migros zum Beispiel haben bereits eigene Testseiten wie www.migipedia.ch lanciert, wo sie in permanentem Kontakt mit ihrer Kundschaft stehen. Für Firmen ohne eigene Testseiten stehen Plattformen wie www.company.trnd.com bereit, auf denen Produkte getestet werden können. Hier werden Novitäten einer 700’000 Personen starken Konsumentengruppe übergeben, welche Empfehlungen abgibt und Produkte ausprobiert. Neben Konsumgütern lassen sich übrigens auch Laufbahnprodukte wie Karriereberatungen oder Coachings breiter abstützen. So hat der KVZ zum Beispiel neue Beratungsangebote dank sorgfältiger Evaluation und Feedbackkultur – Crowdtesting eben – mit den Kursteilnehmenden weiterentwickelt. Entstanden ist ein massgeschneidertes Beratungsangebot: www.kvz.ch > Dienstleistungen > Laufbahn- und Karriereberatung.
Smart ist, den CEO demokratisch zu wählen.
Dass die direkte Demokratie in der Schweiz mehr ist als eine reine Staatsform, darf zu Recht behauptet werden: Sie ist geradezu eine tief verankerte Gesinnung. In keinem anderen Land gibt es eine nur annähernd ausgeprägte Mitbestimmung wie bei uns. Nun liegt es nahe, dieses Erfolgsmodell auch auf Unternehmen anzuwenden und die Führung demokratisch zu wählen. Zwar haben sich bislang erst wenige Firmen für dieses Management by Empowerment — das Führen durch Ermächtigung — entschieden. Doch sind diejenigen, die damit Erfahrung gesammelt haben, überzeugt, dass das Konzept der Mitsprache und des verbürgten Vertrauens erfolgsversprechend ist. So berichtet beispielsweise Haufe-umantis, der weltweit führende Anbieter für Talentmanagement-Software, übrigens einst ein Start-up der Universität Zürich: «Wir sind überzeugt, dass wir erfolgreicher sind, wenn wir unseren Mitarbeitenden Vertrauen schenken und sie mitbestimmen lassen. Bisher haben wir diesen Ansatz bei der Strategieentwicklung und bei Einstellungs-entscheidung gelebt – jetzt auch bei der Wahl der gesamten Führungsriege.» – Wir möchten Sie als Verwaltungsrat also an dieser Stelle auffordern, die Position Ihres CEO zu hinterfragen. Verfügt die Geschäftsleitung über soliden Rückhalt? Würde sie von der Belegschaft gewählt? Was wären die Konsequenzen einer Abwahl und welche Personen stünden für eine Nachfolge zur Verfügung? Die Gretchenfrage lautet: Wie gross ist das Vertrauen Ihrer Mitarbeitenden in die Geschäftsleitung? Und an die Mitarbeitenden gerichtet: Welchem Vorgesetzten geben Sie den grössten Kredit?
Smart ist, neue Eigentumsformen zu prüfen.
Nach diesen Überlegungen zur Demokratisierung von Unternehmen gehen wir noch einen Schritt weiter und stellen unsere Firma gedanklich um 180 Grad auf den Kopf. Der Eigentümer rückt neu ganz nach unten und seine Belegschaft, die Mitarbeitenden, steht plötzlich ganz oben — als neue Firmeninhaber. Der ehemalige Eigentümer übergibt seine Firma sozusagen, hat jedoch weiterhin an deren Erfolg teil und lässt sich Dividenden auszahlen. Derweil die Mitarbeitenden voll motiviert arbeiten, produktiver und wirtschaftlicher denn je, und sich für eine nachhaltige Entwicklung engagieren. Der Gewinn für alle ist vorprogrammiert. — Diese neue Eigentumsform kommt der Genossenschaft nahe, einer Unternehmensform, die eine lange Tradition zurückblickt. Allein in der Schweiz gibt es 9600 Genossenschaften. Diese gelten bei als heimliche Wirtschaftsmacht, nicht zuletzt, weil sie für solide und faire Unternehmenswerte stehen. Werte, die nach der Finanzkrise wieder modern sind.
Smart ist, zu teilen.
«Gemeinsam haben wir mehr — und gemeinsam können wir es besser». Auf dieser Erkenntnis basiert das Wirtschaftsmodell Kokonsum – Kollaborativer Konsum. Denn der Wohlstand erhöht sich für alle, je öfter geteilt wird. So profitieren bei positivem Geschäftsgang breite Teile der Gesellschaft, während bei Konjunkturabschwung alle zusammen weniger verdienen. Diese Flexibilisierung wirkt der Arbeitslosigkeit entgegen und erhält Arbeitsplätze, was letztlich dem Sozialstaat entgegenkommt. Ebenso werden Gebrauchsgüter immer öfter nicht mehr nur gekauft, sondern gemeinsam gekauft und gemeinsam benutzt. Autos, Maschinen, ganze Produktionsstätten. So ermöglichen auf viele Schultern verteilte Investitionen technisch höchste Standards und setzen zudem in jedem Unternehmen Energie und Mittel für anderes frei. — Dieser Grundgedanke des Teilens steht auch beim Kaufmännischen Verband Zürich seit mehr als hundert Jahren zuoberst auf der Traktandenliste: «Gemeinsam statt einsam» heisst auch hier das Credo. Der Verband macht sich für die Interessen seiner Mitglieder stark und setzt sich im Dialog mit den Arbeitgebern für zeitgemässe Anstellungsbedingungen ein. Er unterstützt seine Neu- und Wiedereinsteiger/innen auch in Sachen Selbstkompetenz und arbeitet mit ihnen auf eine nachhaltige Work-Life-Balance hin. Die Mitglieder fügen sich derweil zu einem Wirtschaftsnetzwerk zusammen und teilen Wissen und Können. Sie knüpfen Kontakte, erhalten kostenlose Rechtsberatung, Vergünstigungen für Weiterbildungen oder Seminare, Zugang zum FrauenNetz und werden stets mit wirtschafts- und gesellschaftsrelevanten Themen versorgt.
Smart ist, voneinander zu profitieren.
«Gemeinsam statt einsam» ist auch konkret auf Räume zu übersetzen. So haben viele Kreative, Freiberufler oder Startups die flexiblen Arbeitsräume — Coworking Spaces genannt — längst für sich entdeckt. Sie profitieren, indem sie sich flexibel in Büros ein- und ausmieten und unabhängig, aber vernetzt, an gemeinsamen Projekten arbeiten. Sie tauschen sich frisch fröhlich an jedem Standort aus und halten ihre Fixkosten tief. Dank diesen spontanen Teams funktioniert der Wissenstransfer unkompliziert und hierarchieübergreifend: Alte lernen von Jungen. Technisch Versierte von technisch weniger Begabten. Kreative von Wirtschaftsstrategen und Architekten von Fondsmanagern. Bestehende Prozesse werden hinterfragt, Erfahrung ist Common Sense. Auch entstehen in dieser Atmosphäre persönliche Gespräche ganz natürlich. Dieser Arbeitsplatzwechsel macht also mehrfach Sinn, aus ökonomischer, persönlicher sowie aus ökologischer Sicht. Smart ist, sich tage- oder stundenweise in einem Büro mit Infrastruktur oder modern ausgestatteten Sitzungsräumen einzumieten — und befruchtend für alle Teilnehmenden ist es erst recht.
Smart ist, sich für soziale Sicherheit einzusetzen.
Und noch einmal «gemeinsam statt einsam». Wir sind überzeugt, dass ein rein egoistisches Wirtschaften auf die Dauer nicht nachhaltig ist, denn niemand lebt hermetisch von seiner Umwelt abgeschottet. Wir wissen, dass der Standort Schweiz auch in Zukunft nur so stark und produktiv sein kann, wie es sein schwächster Teil ist. Deshalb setzen wir vom Kaufmännischen Verband für eine engagierte Sozialpolitik ein, die keine künstlichen Unterschiede zulässt. Wir organisieren Fachtagungen und mischen bei bildungs- und arbeitspolitischen Themen mit. Wir laden Sie ein: Gestalten Sie mit uns zusammen den Arbeitsmarkt von morgen. Damit Zürich auch in Zukunft weltweit an der Spitze mitspielen kann. World Class. Swiss Made.
Die Schwäbische Alb ist ein Hochplateau in Süddeutschland, das sich über 200 Kilometer weit erstreckt. Da kommt Johanna Sofie Kümmel im Dorf Essingen als Mittlere von acht Kindern 1931 auf einem Bauernhof zur Welt. Walter, Margret, Georg, Rosel, Johanna, Friedrich, Gottfried und die kleine Anna. Vier Mädchen, vier Buben. Der Betrieb ist gross, die Arbeit immer viel, mit den Ochsen wird auf dem Feld gepflügt, im Stall nach den Tieren geschaut und in der Küche werden für den Grosshaushalt täglich Mengen gekocht. Johanna fühlt sich im Gegensatz zu ihren Geschwistern weder kräftig noch tüchtig und leidet unter der vielen Arbeit. Sie mag so einiges nicht. Wenn zum Beispie geschlachtet wird, macht sie einen weiten Bogen um Haus und Hof und schleicht draussen rum und fantasiert sich ihre Welt zusammen. Zwar weiss sie um die Geborgenheit, die ihr die starke Familie bietet und sie geniesst diese auch. Geniesst es zum Beispiel, wenn die Lehrer sie gleich mit der Erwartungshaltung begrüssen, genauso klug wie ihre grossen Geschwister zu sein. Doch sie mag die Position des Einzelgängers mindestens genauso und kokettiert auch gerne damit.
Praktisch während Johannas ganzer Schulzeit ist Krieg. Zur Schule geht man da unregelmässig. Es fehlt Kohle, um das Schulhaus zu heizen, es ist Fliegeralarm oder der Lehrer wird nach irgendwohin eingezogen. So wird sie fünfzehn, die Schulzeit ist fertig und Johanna geht bei einer Arztfamilie den Haushalt erlernen. Das war es, was in dieser Zeit für die Mädchen vorgesehen war: In einen Haushalt arbeiten zu gehen oder auf dem Hof zu helfen. Beides missfällt Johanna. Sie kann ihren Vater nach langem Erklären davon überzeugen, dass sie eine richtige Ausbildung machen will. Der ersten richtigen Ausbildung hängt sie dann gleich eine zweite an und so kommt sie 1950 zum ersten Mal in ihrem Leben als frischgebackene Buchhändlerin aus Deutschland heraus und zwar weil die besten Lehrabschlüsse des Landkreises mit einer Reise nach Paris prämiert werden.
Auf Bildern aus dieser Zeit sieht man Johanna halb schüchtern und halb selbstbewusst, immer mit Rock und viel mit ihrem grossem Fahrrad. Damit machte sie Touren. Oft mit ihrem Lieblingsruder Friedrich und bald mit dessen Verlobten Erika. Erika, ebenfalls eine Berufsfrau, wird eine der treusten Begleiterinnen für Johannas ganzes Leben.
Johanna zieht es schnell in die Stadt. Zuerst nach Aalen, die nahe gelegene Kreisstadt, danach nach Stuttgart. In Stuttgart arbeitet sie bei einem Verlag, besucht für diesen zum ersten Mal Zürich, und zwar für die Veranstaltung «Schönste Bücher der Schweiz». So lernt sie Schweizer Verleger kennen und nimmt ein Stellenangebot des Kirchlichen Zürcherischen Zwingliverlages an und freute sich — trotz Schuldgefühlen, zuhause nicht mehr helfen zu können — auf den grossen Schritt.
Gerne erzählt sie, wie oft sie die Koffer gepackt hat und umgezogen ist. Es waren wohl siebzehn oder achzehn mal, alles in allem.
Beim Zwingliverlag lernt Johanna ihren Mann Matthias Studer kennen, den Sohn vom Pfarrer aus Höngg, der diese Kirchgemeinde und diesen Friedhof hier betreute. Matthias und Johanna bekommen ihre Kinder Ueli, später Philipp und Sonja und dann noch Bernhard, dem nur ein Tag Lebenszeit vergönnt war. Die Familie wohnt zuerst im alten Elternhaus von Johanna in Essingen und erlebt da eine ereignisreiche und recht glückliche Zeit. 1972 kehren sie in der Schweiz zurück — aus Johanna wird Hanni — und die junge Familie verbringt erst einige Jahre in Volketswil, bis sie dann in Siglistorf und später in Schneisingen in ihrem eigenen Haus wohnen können, was Hanni sehr viel bedeutet.
Die Zeit mit den kleinen Kindern ist die glücklichste Zeit in Johannas Leben. Als Mutter ist passioniert und vergisst sich, wenn sie stunden- und tagelang Burgen aus Kartonschachteln bastelt, wenn Burgzinnen und Fenster ausgeschnitten werden und Stein um Stein mit Filzstift auf die Kartons gemalt werden. Sie bastelt mit Nachbarskindern, mit fremden Kindern — ganze Invasionen von Kindern treten jeweils vor Weihnachten an um irgend etwas mit Hanni zu machen. Ihre Freude am Spielen ist grenzenlos. Es werden Kreuzworträtsel selber ausgedacht und in den Ferien wird täglich Tagebuch gezeichnet und geschrieben. Für die Kinder ihrer Schwester Anna ist sie die «Dote». Das ist Schwäbisch und heisst Patentante. Über weite Strecken nennen selbst ihre eigenen Kinder sie «Dote», weil sie das soviel zu hören kriegen, und die «Dote» eben die «Dote» ist. Johanna hat enge Beziehungen zu ihren Nichten aus Deutschland: Gertrud und Uschi, Annas grosse Töchter, kommen immer mit in die Ferien ins Bündnerland. Später kommen Nate und Nucki, die zweitgrössten. Manchmal auch Timmi, die Kleine. Es kommen Rosels Kinder Ruth, Margreth, Brigitte und Annette — alle immer in die Schweiz. Auch Erika und Friedrichs Kinder Doro und Mächthild sind gerne da und einmal kommt sogar der einzige Bub der ganzen Sippschaft mit dem Motorrad vorbei: Eberhard.
Heute haben Johannas Nichten und der Neffe zusammen wiederum 37 Kinder und jede einzelne Ankunft verzückte Johanna aufs Neue. Sie notiert deren alle Namen und Zunamen und die Geburtstage und wenn jemand etwas Familiäres nicht weiss: «Dote fragen — die weiss es ganz bestimmt!».
In Schneisingen ziehen irgendwann eines nach dem anderen die Kinder aus, und zuletzt auch Matthias. So beginnen für Johanna Jahre voller Ressentiments in einem leerem Haus. Zwar hatte sie einige Zeit zuvor im Alterspflegeheim Baden zu arbeiten begonnen und diese Arbeit beansprucht sie und erfüllt sie auch, doch es fehlt die Familie. Dazu die Sorge um Philipp, um Sonjas Gesundheit und das kontinuierliche und radikale Verschwinden ihres Sohnes Ueli.
Johanna darf in Baden viel länger arbeiten, als es das Pensionsreglement vorgesehen hätte, denn ihre Jugendlichkeit lässt die Leute glauben, sie sei gute zehn Jahre jünger. Doch irgendwann ist endgültig Schluss mit der Altenpflege. Da sucht sie sich ein neues Tätigkeitsgebiet und findet dieses in der Betreuung von Kindern. Bei der Schneisinger Familie Niggli arbeitet sie fast vier Jahre lang und diese Arbeit ist eigentlich nicht Arbeit zu nennen, denn der Kleine von Nigglis wird ihre, wie sie selber sagt, letzte grosse Liebe. Mit Jonas zusammen zu sein, macht sie richtig froh.
Johanna wäre nicht Johanna, wenn sie trotz dem nachbarschaftlich, freundlichen Umfeld in Schneisingen mit den vielen solidarischen Freundschaften, nicht erkennen würde, dass es Zeit ist, einen neuen Schritt zu wagen. Sie löst das Familienhaus auf und zieht in ihre alte Heimat Zürich. Dort beginnt sie sich einen neuen Freundeskreis aufzubauen und engagiert sich bei der Predigerkirche. Als eine der Pensionierten aus der «Kirchen-Hüte-Gruppe» ist sie fortan zweimal wöchentlich in der Predigerkirche und schaut dort zum Rechten, begrüsst die Touristen, radebrecht auf Englisch, verteilt Notgutscheine an Hilfesuchende, ist dabei, wenn die Sans-Papier die Kirche besetzten, kocht und bäckt für Feiertage, und erklärt allen, die es hören wollen oder auch nicht, alles über Zwingli, die Chagallfenster oder die Stadtmission. Sobald sich Johanna engagieren kann, blüht sie auf. Dann scheut sie weder Aufwand noch Zeit und Kräfte.
Daneben lebt sie in der Stadt eigentlich ein ähnliches Leben wie sie es als junge Buchhändlerin tat: Sie besucht Konzerte und geht in die Oper, ins Moods oder ins Kino. Der Samstag auf dem Flohmarkt, das Kaffee Marion und das Kaffee St. Jakob sind feste Pfeiler in ihrer Woche. Alte Freundinnen wie Brigitte Dingentschweiler, Brigitte Gmelin und die Schwarzwald-Clique mit Lilo oder Patrizia, Martha, Ursula, Caroline und Päuli Rohner aus Schneisingen begleiten sie dabei. Sie lernt auch neue Freundinnen wie Esther Bauer kennen, geht mit Anita und Marcel mittagessen oder trifft sich mit den Freunden ihrer Kinder. So werden Helen, Reto, Carole, Oli, Thomas oder die Tibeterin Tsering wichtige Bezugspersonen für Johanna.
Dass sie seit nunmehr 14 Jahren Krebs hat, steckt sie sportlich weg. Denn seit der ersten schlimmen Operation, die eine wirkliche Zäsur in ihrem Leben war, weiss sie, dass alles, was danach kommt, Ehrenrunde ist. Sie ist seit dann mit Matthias wieder freundschaftlich verbunden und findet nach den schwierigen Jahren zu ihrer genuinen Unbeschwertheit zurück. Sie wird im Alter wieder zu der Person, die sie in ihrer Jugend war: eigenwillig unbelehrbar, unkonventionell und begeisterungsfähig.
Am 10. Januar dieses Jahre erlebt Johanna einen Hirnschlag, von dem sie sich zunächst erstaunlich gut erholt. Dann kommt ein etappenweiser Abbau ihrer körperlichen und geistigen Fähigkeiten und es zeichnet sich ab, dass sie nicht mehr alleine wohnen kann. Der Autonomieverlust und die Notwendigkeit, in ein Altersheim zu ziehen, fallen ihr schwer, doch schafft sie es einmal mehr, sich mit der neuen Lebenssituation zu arrangieren. Sie zieht in den vierten Stock vom Altersheim Trotte, was Wipkingens erstes Hochhaus war, und hat von dort oben eine atemberaubende Sicht auf die ganze Stadt und den Prime-Tower – gegen welchen sie mit Innbrunst stimmte, da Zürich hohen Häuser brauche! – und den See bis in die Glarner Alpen. Sie weiss, dass sie nicht mehr lange leben wird. Sie spricht mit ihren Kindern darüber und sagt, dass sie gerne auf dem Friedhof Hönggerberg liegen möchte und zwar in der vordersten Reihe, wo der Blick weit ins Limmattal reicht. Sie sagt: «Seid nicht traurig, wenn ich sterbe. Ich habs schön gehabt! Aber ich möchte schon noch ein bisschen mit euch bleiben —».
Wie war die Welt vor hundert Jahren? Was bewegte damals eine Frau, ihr ganzes Vermögen dem Gemeinwohl zu überschreiben? Und wie gelangte diese Frau zu ihrem Vermögen? Wir können darüber nur mutmassen, wissen jedoch, dass Elise Hirzel-von Schwerzenbach klare Visionen hatte und diese auch in Taten umsetzte. Im Jahr 1916 rief sie die Hirzel Stiftung ins Leben und formulierte deren Zweck als «Förderung und Unterstützung gemeinnütziger Bestrebungen auf dem Gebiete der schweizerischen Eidgenossenschaft.». So stellen wir uns einen grosszügigen Menschen vor, eine Frau — wohl kinderlos — mit einem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit und das Gemeinwohl.
Heute unterstützt die gemeinnützige Hirzel Stiftung mit Sitz in Zürich Projekte aus den Bereichen Bildung, Soziales, Kultur und Wissenschaft. Ihr Ziel und Zweck ist es, institutionelles und professionelles Engagement gezielt zu fördern und mit ihrer Spendentätigkeit einen Teil zum Schweizer Gemeinwohl beizutragen.
Die zuständige Stiftungspräsidentin und Stiftungsrätin arbeiten interdisziplinär. Sie prüfen jedes eingereichte Gesuch sorgfältig nach dem Vier-Augen-Prinzip. Die zwei engagierten Fachfrauen — ihres Zeichens Anwältin und Kulturmanagerin — stellen so sicher, dass die Vergabungen im Sinn der Stifterin erfolgen.
Die Hirzel Stiftung untersteht der Aufsicht des Eidgenössischen Departement des Innern EDI.
www.hirzelstiftung.ch
((Engagement))
Die Hirzel Stiftung fokussiert auf vier Themen: Bildung, Soziales, Kultur und Wissenschaft. Sie engagiert sich für Projekte, welche gesellschaftlich relevant sind und einem möglichst breiten Kreis von Teilnehmenden zugute kommen. Sie unterstützt Institutionen, Vereine, Bildungsinstitute, Hilfswerke oder in einzelnen Fällen auch initiativen Einzelpersonen.
((Engagement > Sozial))
Die Hirzel Stiftung wurde in einer Zeit ins Leben gerufen, als der Schweizer Sozialstaat noch weit von seiner heutigen, raffinierten Form entfernt war. Weder die IV noch die AHV existierten damals — «Invalide», «Alte und Hinterlassene» wurden meist ihrem eigenen Schicksal überlassen. Trotz der soliden Absicherung, die wir heute dank dieser Werke geniessen, sind soziale Projekte oft auch auf nicht-staatliche Hilfe angewiesen. Deshalb engagiert sich die Hirzel Stiftung für Projekte, die auf das Wohl von Kindern und Benachteiligten ausgerichtet sind.
((Engagement > Bildung))
«Wer nichts weiss, hat nichts zu sagen», so Marie von Ebner-Eschenbach, eine der wichtigsten deutschsprachigen Erzählerinnen des 19. Jahrhunderts. Und formuliert damit, was das Schicksal von Menschen ist, die keinen Zugang zu Bildung haben. Die Hirzel Stiftung engagiert sich für Bildung — und das tut sie dezidiert, denn Bildung ermöglicht eine eigene Meinungsbildung, fördert die persönliche Offenheit, stillt Neugierde und stärkt das Selbstbewusstsein.
((Engagement > Wissenschaft))
Die Wissenschaft ist der Inbegriff alles menschlichen Wissens, aller systematisch zusammengetragenen und stets erweiterten Erkenntnisse und der Lehre dessen. Alle Lebensbereiche sind von Wissenschaft betroffen: Psychologie, Physik, Mathematik, Informatik oder Ingenieurwesen und vieles mehr. Die Hirzel Stiftung strebt primär nach einem: Wissenschaft möglich zu machen, die unser Leben lebenswerter machen.
((Engagement > Gesundheit))
Die Hirzel Stiftung engagiert sich für das elementare Menschenrecht auf Gesundheit. Sie unterstützt grosse und auch ganz kleine Projekte, allesamt widmen sich diese der medizinischen Grundversorgung, ganzheitlicher Behandlung, Prävention und Krankheitsbekämpfung. Denn die Gesundheit ist einer der wichtigsten Pfeiler für ein würdiges Leben.
((Engagement > Kultur))
Ob Tanzen, Modellieren, Skizzieren, Schreiben, Philosophieren oder Inszenieren: Die Hirzel Stiftung engagiert sich für ein reichhaltiges kulturelles Leben und Schaffen jeder Couleur und unterstützt sowohl Institutionen, Programme, Veranstalter, Festivals wie auch Kulturvermittlungsprojekte.
((Förderkriterien))
Die Hirzel Stiftung richtet sich bei der Beurteilung der eingereichten Gesuche nach klar definierten Förderkriterien. Die Gesuchstellenden können sich auf diesem Weg bereits vor der Eingabe ihres Gesuchs transparent zu den Massstäben informieren. Neben der Qualität des Projekts wird auch auf die Dringlichkeit sowie eine ausgewogene Verteilung der Vergabungen Wert gelegt.