Lesen Sie auch? Die hier vorgestellten Bücher empfehle ich herzlichst zur Lektüre — weil sie Seite für Seite jeden gedruckten Buchstaben wert sind. Fehlt Ihr Lieblingstitel? Dann schreiben Sie mir und ich lese ihn.
Necati Öziri:
Vatermal
Arda kennt seinen Vater nicht, doch will er unbedingt, dass dieser ihn kennenlernt. Deshalb erzählt er ihm seine Lebensgeschichte. Unschlüssig, wie den unbekannten Vater anzusprechen, entscheidet er sich weder für Baba noch für Babam sondern für den Vornamen Metin: «Erzählen ist wie Wasser, Metin, einmal unterwegs, findet es seinen Weg von selbst.» Arda berichtet wie seine Mutter nach Vaters Verschwinden in Deutschland den Boden unter den Füssen verliert und wie die Schwester weggegeben wird, weil Mutter arbeiten muss. So wie schon deren Mutter. Er erzählt von seinen Freunden, die allesamt ohne Väter aufgewachsen sind — und unter permanenter Vorverurteilung von Behörden und Gesellschaft. «Die Männer, mit denen wir in Berührung kamen sorgten dafür, dass wir Angst bekamen, vor der Berührung mit Männern und anderen Jungs.» Necati Öziris Debüt ist eine Wucht. Und wer die Chance hat, diesen umwerfenden Autoren auf der Bühne zu erleben, der kann sich auf noch viel mehr Wucht freuen!
Anne Berest:
Die Postkarte
Auf der Postkarte ohne Absender stehen nur vier Namen: Ephraïm, Emma, Noemi, Jacques. Alle vier wurden vor der Geburt von Anne Berests Mutter deportiert und starben in Auschwitz. Mehr als 60 Jahre später taucht diese Postkarte auf — und Anne Berest beginnt über ihre Vorfahren, die Familie Rabinovitch, zu recherchieren. Entstanden ist literarischer Coup, der seit seinem Erscheinen im Herbst 2021 auf der französischen Bestellerliste steht. «Eine Suche, in der sich Thriller und Requiem vereinen.» Le Point «Alle drei, vier Sätze umarmt es einem das Herz, wenn Berest voller Liebe, Witz und Wärme Menschen aufleben lässt, die sich ärgern, sich freuen, die arbeiten, die sich lieben oder auch nicht, die planen und hoffen und bei alldem so tragisch ahnungslos sind, an das gute Ende, an die Vernunft des Menschen glaubend, dass man laut aufschreien möchte.» Jüdische Allgemeine
Bernardine Evaristo:
Mr. Loverman
Er will den Rest seines Lebens mit Morris verbringen, seinem Geliebten seit Jugendtagen. Während der schwule Barrington Walker seinen Plan schärft, im Alter seine «Barrysexualität» offen auszuleben, bringt sich das Personal um ihn herum in Stellung: die tief religiöse und von ihrer Ehe bitter enttäuschte Carmel, seine erwachsenen Töchter sowie der Geliebte Morris, der nicht mehr darauf hoffen mag, dass Barry zu ihrer Verbindung steht. Die beiden Männer waren jung und jeweils frisch verheiratet aus der Karibik nach London emigriert und hatten hier ihr ganzes Leben verbracht. Derweil Barry noch mit sich ringt, bricht sein Outing unkontrolliert aus … Bernardine Evaristo jongliert witzig und rasant mit den beiden Erzählstimmen von Ehemann und Ehefrau und fertigt so ein Panoptikum durch Class und Race der Caribbean Community in England.
Martin Kordić:
Jahre mit Martha
Anmutig und leichtfüssig umreissen die «Jahre mit Martha» die asymmetrische Liebesgeschichte zwischen Željko und der viel älteren Martha, Frau Gruber. Die Professorin steht für alles steht, was er erreichen will: Habitus, Bildung, Souveränität. Die Sequenzen der Liebesgeschichte spielen sich in Marthas Villa ab, an der Nordsee, an der Universität, wo Željko studieren wird, sowie auf einem Roadtrip nach Zagreb zum Begräbnis des Patriarchen der kroatischen Familie. Die Liebenden beobachten sich andauernd und wir als Leserschaft schauen zu. So zum Beispiel, wenn Željko das Thema Armut in zwei Strichen radikal seziert, oder später, wenn er nach seinem Hochschulabschluss von einer Machtfalle in die nächste tappt. Wie hoch auch immer er sein Wissen auftürmt, wie viel Martha auch immer manipuliert, seine Herkunft zwingt ihn in die Knie. Integration: nicht geglückt.
Hussein Mohammadi:
Scheherazades Erben
Zwei Brüder sind unterwegs nach Kabul, die abtrünnige Masomah zu finden. Die Mission könnte für die beiden nicht unterschiedlicher sein, da Ahmad weiss, dass er seine Tochter vor den Konsequenzen für diesen Ungehorsam nicht beschützen kann, derweil Eshag, Vater des zukünftigen Bräutigams des Mädchen, seine Ehre retten muss. Mit der Reise vom ländlichen Afghanistan in die Stadt beginnt dieser Roman, der episodisch die Leben aller durch diese Flucht verbundenen Menschen entfaltet. Die Episoden kumulieren in einem Showdown — einer Szene, die in ihrer Dramaturgie kaum zu überbieten ist.
Fatma Aydemir:
Dschinns
Da ist Hüseyin, der nach Jahrzehnten Schichtarbeit in Frührente geht, um sich in Istanbul den Luxus einer Wohnung zu leisten. Da sind seine Frau Emine, auf der eine schwere Traurigkeit lastet, sowie ihre älteste Tochter Sevda, die Opfer eines rassistisch motivierten Brandanschlag wurde. Weiter Hakan, der schon irgendwie klarkommt, sowie Peri, die Erste der Familie, die in Deutschland studiert. Und dann noch der Jüngste, Ümit, der verliebt ist — in einen Mann. Die Innenwelten dieser sechs Familienmitglieder kumulieren in «Dschinns» zu einem grossen Familienroman. Der Dschinn übrigens, ein unsichtbares Lebewesen, das im islamischen Glauben gemeinsam mit den Menschen die Welt bevölkert, steht titelgebend für die diffuse Angst, die sich nie vollständig greifen und aussprechen lässt.
Marco Balzano:
Wenn ich wiederkomme
Welche Tragödien Migration mit sich bringen kann, zeigt Marco Balzano in «Wenn ich wiederkomme» eindrücklich auf. Im ersten Drittel lernen wir eine Familie kennen, deren Mutter in einer Nacht-und-Nebel-Aktion abreist, um nach Italien arbeiten zu gehen. Ihre Kinder und der trinkende Mann sind paralysiert und verweigern der Mutter bald die täglichen Videoanrufe. Im zweiten Drittel wird ihre Arbeitsrealität als Altenpflegerin und Kinderfrau gezeigt. Und im letzten Drittel passiert etwas, das die Mutter zwingt heimzukehren. Sie kehrt als gebrochene Frau heim, die alles opferte und noch mehr verlor. Und versinkt, wie viele andere Arbeitsmigrantinnen auch, in eine Depression, die in Rumänien schlicht die «italienische Krankheit» genannt wird.
Mirna Funk:
Zwischen du und ich
Die in Ostdeutschland aufgewachsene Nike hat eigentlich keine jüdische Identität — sondern eine kommunistische. Was ihrer Grossmutter widerfuhr, prägte ihre Mutter und entsprechend auch sie selbst: So nimmt Nike als Kind der third generation ihre Beziehungsunfähigkeit als Gottgegeben hin. Bis sie Mitte Dreissig nach Tel Aviv auswandert, ihr Jüdischsein zu erforschen, und dabei auf Noam trifft. Auch Noam ist Opfer seiner Geschichte. Bei ihm ist die Gewalterfahrung häuslich und männlich und zwar durch seinen Onkel so profund geprägt, dass er selbst als Erwachsener nicht aus dessen System ausbrechen kann. Nike und Noam versuchen sich in der Liebe. Es klappt nicht.
Ayelet Gundar-Goshen:
Wo der Wolf lauert
«Ich sehe im Geist diese winzigen Fingerchen, die eines Neugeborenen, und versuche zu begreifen, wie sie zu den Fingern eines Mörders heranwachsen konnten. Der tote Junge heisst Jamal Jones. Auf dem Bild in der Zeitung sind seine Augen samtschwarz. Mein Junge heisst Adam Schuster. Seine Augen sind blau wie das Meer von Tel Aviv. Es heisst, er habe ihn umgebracht. Aber das stimmt nicht.» Lilach — Mutter, Ehefrau und Israelin — verzweifelt inmitten der Kulisse des amerikanischen Traums an dieser Wahrheitssuche. Kann es wirklich sein, dass ihr Junge den schwarzen Jungen ermordet hat? Was hat sie übersehen und seit wann kennt sie ihr Kind nicht mehr?! Während sich die Anzeichen um Motiv und Tötung verdichten, verhärtet sich die Lebensrealität der kleinen Familie rasant.
Shida Bazyar:
Drei Kameradinnen
«Wir sind nicht so anders als ihr. Das denkt ihr nur, weil ihr uns nicht kennt. Weil ihr keine Kindheit hattet, die so roch wie unsere, und weil ihr keine Freundinnen habt, mit denen ihr diese stinkende Kindheit hättet teilen können.» — Saya, Hani und Kasih treffen sich nach Jahren, um die Hochzeit einer Jugendfreundin zu feiern. Am Vorabend des Festes noch lachen sie und kiffen und erzählen einander auf der Dachterrasse von ihren absurden Alltagserlebnissen. Von Rassismus, Ignoranz und Sexismus. Doch dann bahnt sich die Katastrophe an. Ein Haus geht in Flammen auf. Menschen sterben. Kasih, die Ich-Erzählerin, rapportiert atemlos und mit gigantischer Wut im Bauch von der Kumulation der Ereignisse — und führt uns dabei schön an der Nase rum.
Bernardine Evaristo:
Mädchen, Frau etc.
Bernardine Evaristo bombardiert ihre Leserschaft in diesem Buch mit zwölf Lebensgeschichten von schwarzen, mittelschwarzen, halbschwarzen bis praktisch weissen Britinnen. Sie sind Schwestern, Sisters, Sistas, Frauen, Women, Wimmin und haben Brüder, Brothers, Bruvs und LGBTQI*-Mitglieder der ganzen Menschenfamilie an ihrer Seite. Die Biografien, atemlos und ohne Punkt und Komma erzählt, sind dicht ineinander verflochten — ein Panoptikum der letzten hundert Jahre Migrationsgeschichte Englands. Dass das Buch 2019 den Booker Prize gewonnen hat, erstaunt null. Man möchte einfach nur mehr davon. Mehr Buch, mehr von dieser Sprache, diesem Tempo, dieser humorvollen und zärtlichen Sicht auf die oftmals harten Schicksale.
Ronya Othmann:
Die Sommer
Die Sommer, lang sind sie und langweilig. Nichts passiert im Dorf ihrer Grossmutter in Nordsyrien, ausser wenn die Tante aus Aleppo kommt. Leyla weiss, dass sie als Tochter eines jesidischen Kurden und einer deutschen Mutter hohe Erwartungen zu erfüllen hat, nicht umsonst wurde sie von ihrem Vater nach drei anderen Leylas benannt: allesamt kurdischen Kämpferinnen, die ihr Leben für die Kultur der Jesiden liessen: «Ihr Leben, ihre Geschichte wurden an ihrem Namen gemessen. Leyla dachte, dass ihr Name nicht ihr gehörte. Sie gehörte dem Namen.» Derweil sie in München ins Gymnasium geht und sich mit der eigenen Identität auseinandersetzt, bricht der Krieg in Syrien aus. Die nächsten Jahre verfolgt der Vater Tag und Nacht rauchend am Fernseher die Zerstörung seiner Heimat – die Mutter versucht mit allen Mitteln, die Verwandten aus dem Dorf zu retten. Wie viel in diesem Roman autobiografisch ist, lässt die Ronya Othmann offen. Aber wer kann Schuldgefühle wie diejenigen von Leyla konstruieren, die nach einer Nacht mit ihrer Geliebten überzeugt ist, dass der syrische Cousin nur ihrer Selbstsucht wegen erschossen wurde?
Iwan Bunin:
Ein Herr aus San Francisco
Die Erzählungen aus «Ein Herr aus San Francisco» entstehen 1914 und 1915 auf Capri, wo die russische Oberschicht zu überwintern pflegt. Hier schreibt Iwan Bunin über den Herrn aus San Francisco, der mit Frau und Tochter Europa bereist und jäh seinen Tod findet. Und über den Diener einer Adelsfamilie, der deren Kinder mit Schauergeschichten verstört, oder über den Rikschafahrer inmitten Cylons Chaos. Die Novellen gehören zum Besten der Weltliteratur, Iwan Bunin erhält 1933 als erster Russe den Nobelpreis für Literatur. Neu übersetzt und aufgelegt sind die Erzählbände nur schon der wunderbaren Ausstattung wegen ein Must-Have!
Olivia Wenzel:
1000 Serpentinen Angst
«Ich habe mehr Privilegien, als je eine Person in meiner Familie hatte. Und trotzdem bin ich am Arsch. Ich werde von mehr Leuten gehasst, als meine Grossmutter es sich vorstellen kann.» Olivia Wenzel ist die Tochter einer Punk-Mutter in der DDR, die immer nur wegwollte, und Enkelin einer linientreuen DDR-Bürgerin. Sie ist auch Zwillingsschwester des Neunzehnjährigen, der sich vor einen Zug wirft, und Tochter eines Angolaners, der Geld und E-Mails schickt — exakt zweimal im Jahr. Das Debüt von Olivia Wenzel ist eine Sensation, sprachlich wie auch formal. In der ersten Hälfte des Buches wird die Autorin befragt, unerbittlich, penetrant. In der zweiten Hälfte dreht sich der Spiess und nun ist sie es, die Fragen stellt.
William Melvin Kelley:
Ein anderer Takt
«A Different Drummer» erscheint 1962 und der Autor wird von der New York Times gleich mit Literaturgrössen wie William Faulkner und James Baldwin verglichen. Seine Geschichte spielt in den Südstaaten Amerikas, wo der junge Schwarze Tucker Caliban seine erst kürzlich erworbenen Felder stoisch zerstört, sein Pferd erschiesst, seinen Baum fällt und das Haus abfackelt. Dann gibt er seiner schwangeren Frau das Zeichen zum Aufbruch: «Wir sind soweit.» Und die Familie zieht, ohne ein Wort an die perplexen Zuschauer zu richten, von dannen. Kurz darauf folgt ihm eine andere Familie, eine weitere, eine nächste. Bis die ganze Gemeinde von Farbigen ihr Dorf verlässt und in einem Massenexodus gegen Norden zieht. Endlich sind die Weissen unter sich. Jetzt können sie sehen, wie sie klarkommen.
Raffaella Romagnolo:
Bella Ciao
«Destino» heisst dieses überwältigende Werk von Raffaella Romagnolo in Originalsprache. Ein Titel, der dem Inhalt besser entspricht als das leichtfüssige «Bella Ciao» der deutschen Übersetzung. Denn das Schicksal dirigiert das Leben der beiden Protagonistinnen. Derweil die eine in grösster Not nach Übersee emigriert, bleibt die andere, scheinbar mit dem glücklicheren Los in der Hand, im Piemont. Während die Migrantin in Manhattan unverhofftes Glück erfährt, durchlebt Italien die beiden Weltkriege. Der Roman flicht Geschichten von Krieg und Leid, von Widerstand und Liebe zusammen. Diesseits und jenseits des Ozeans und über drei Generationen hinweg. Geschichten, wie sie das 20. Jahrhundert schrieb.
Vincenzo Todisco:
Das Eidechsenkind
Das Gesetz war so menschenunwürdig wie unumstösslich: Gastarbeiter durften in der Schweiz über Jahre hinweg nur ohne ihre Kinder herkommen und arbeiten. Was dieses Konzept für menschliche und familiären Tragödien mit sich brachte, erzählt der für den Schweizer Buchpreis nominierte Roman von Vincenzo Todisco. – Das Kind muss sich verstecken. Unter der Kredenz, im Schrank, in der Abstellkammer. Wenn es hustet, wird es unter einen Berg von Decken und Kissen gesteckt und das Radio wird aufgedreht. Um der Isolation zu entkommen, flüchtet es immer mehr in die Parallelwelt seiner ersten Jahre bei Nonna Assunta. So wie der Junge wächst und verkümmert, nimmt auch die Lebenskraft der Eltern ab. Und ihr Traum der Rückkehr nach Italien.
Nora Krug:
Heimat
Dieses illustrierte, von Hand geschriebene, mit Fundstücken ergänzte Erinnerungsbuch ist ein Collage, wie sie noch nie gesehen wurde. Die in New York lebende Künstlerin Nora Krug spürt darin der Vergangenheit ihrer deutschen Familie nach. Sie sucht zu ergründen, wie und auf welcher Seite die Familie den zweiten Weltkrieg erlebt hat, und wie sie selber heute mit der Schuld, die ihr Volk auf sich geladen hat, umgehen kann. «Heimat» ist ein Kunstwerk, in dem Familiengeschichte auf Zeitgeschichte trifft. Eine Graphic Memoir, so wahr wie poetisch erzählt – so eindrücklich anzuschauen wie zu lesen.
Francesca Melandri:
Alle, ausser mir
Der Roman dieser römischen Autorin umspannt drei Generationen — ist ein Panoptikum Italiens im 20. Jahrhundert und ein schonungsloses Porträt seiner Gesellschaft. Illaria Profeti, Lehrerin in Rom, 47 Jahre alt, wird an dem Tag mit der Vergangenheit ihres Vaters konfrontiert, als ein junger Migrant vor ihrer Türe steht und behauptet, ihr Neffe zu sein. Höchst irritiert beginnt sie das Leben ihres Vaters zu recherchieren und bringt Stück um Stück seine faschistische Vergangenheit, seine Begeisterung für die arische Reinheitslehre, seine Zeit als Soldat im Abessinienkrieg und seine afrikanische Familie ans Licht. Diesen unglaublichen Wandel vom Saulus zum Paulus kann sie nicht mit Attilio Profeti, ihrem schillernden und liebenswerten Vater, in Einklang bringen. — Die «grosse literarische Psychoanalyse Italiens» (Die Welt) ist nicht nur als Familiensage äusserst lesenswert, sondern beunruhigt auch in höchstem Grade in Bezug auf die aktuellen Migrationsfragen. Francesca Melandri wurde für dieses Buch mit dem höchstdotierten Literaturpreis Italiens nominiert, dem Premio Strega.
Imbolo Mbue:
Das geträumte Land
Jende Jonga chauffiert die Limousine seines Chefs durch das Finance District von Manhattan, stets dessen Telefonate im Ohr. Er bringt den Lehman-Brothers-Banker von Meeting zu Meeting und setzt ihn stundenweise im Hotel Chelsea ab. Er bringt den einen Banker-Sohn zum Klavierunterricht und wischt ihm auch einmal die Tränen ab, derweil er den anderen über eine bessere Welt in Indien philosophieren lässt. Bevor die Gattin ins Auto steigt, vergewissert sich Jende zweifach, dass kein Staubkorn mehr die Rückbank verschmutzt, und wenn er nachts in der Subway Richtung Bronx zu Frau und Kind friert, fragt er sich, wie lange sich Amerika noch träumen lässt. Der jähe Zusammenbruch von Lehman Brothers hat die unmissverständliche Antwort drauf.
Olga Grjasnowa:
Gott ist nicht schüchtern
Hammoudi und Amal sind Syrier — beide jung, schön, privilegiert. Er ist nur auf einen Sprung nach Damaskus zurückgekehrt, um danach ein Stelle in Paris anzutreten und zu heiraten. Ihr steht als Schauspielerin nichts im Weg. Doch der Bürgerkrieg bricht aus und mit ihm alle zivilisatorischen Errungenschaften zusammen. Hammoundis Passverlängerung wird abgelehnt, Amal landet im Gefängnis und wird gefoltert. Die zwei, die sich nur einmal flüchtig in einem Treppenhaus begegnet sind, treffen nach erschütternden Jahren der Flucht in Deutschland wieder aufeinander. Mit einem Kind, das nicht ihres ist. «Wer Syrien verstehen will, lese dieses Buch», titelte die WELT.
Gary Shteyngart:
Kleiner Versager
Gibt es eine komisch-tiefgründigere Erzählweise als diejenige Shteyngart? Der Jude, Russe und Amerikaner hat seine Memoiren geschrieben — und das mit vierzig (was für ihn wie 75 oder 80 ist). Konsequent aus der Perspektive seines jeweiligen Alters geschrieben, schildert der kleinwüchsige und asthmatische Gary den Lauf der Dinge. 1979 wandert die Familie aus der Sowjetunion nach Amerika aus, Vater, Mutter und Igor. Wohin es geht? «Zum Feind.» Aus Igor wird Gary, aus Leningrad Brooklyn. Nur eines bleibt: dass er den Erwartungen seiner Eltern nie genügen wird. Berührend und grossartig!
Olga Grjasnowa:
Die juristischen Unschärfen einer Ehe
Olga Grjasnowa ist Aserbaidschanerin, Russin, Jüdin, Deutsche. Nach ihrem Grosserfolg «Der Russe ist einer, der Birken liebt» erzählt sie jetzt von von Altay und Leyla, zwei jungen aserbaidschanischen Oberschichtskindern, die eine Scheinehe eingehen, um ihre Familien ruhig zu stellen. Zusammen nach Berlin ausgewandert liebt sie also Frauen, er Männer, und trotzdem lieben sie sich beide und verlieren den Boden, als eine dritte Person in ihr Leben dringt. Rasant und skuril.
Jhumpa Lahiri:
Das Tiefland
«Eine beeindruckende Balade von Liebe, Verlust und Tod», schreibt die New York Times. «Eine so suggestive, luzide Prosa, dass man beinahe vergisst, dass man liest», so die Newsweek über den neuen Roman der indisch-stämmigen Pulitzerpreisträgerin Jhumpha Lahiri. Sie führt anhand eines ungleichen Brüderpaars vor Augen, wie untrennbar das Politische vom Privaten wird, wenn sich innerhalb derselben Familie der eine radikalisiert, derweil sich der andere entzieht. Nach der Erschiessung des Aktivisten übernimmt der längst in die USA emigrierte Bruder die Verantwortung für dessen Frau und Tochter und belügt sich dabei schwer.
Chimamanda Ngozi Adiche:
Americanah
Die Protagonistin Ifemelu erfährt und erlebt erst in ihrem Studium in den USA, was es bedeutet, schwarz zu sein. Aus Nigeria kommend, ist sie zwar mit zahlreichen Arten gesellschaftlicher Missstände vertraut, doch nicht mit dem absolutesten aller Diskriminierungsmerkmale: der Hautfarbe. Sie beginnt, radikal und erfolgreich über den Unterschied von Afrikanern und Afroamerikanern zu bloggen. Darüber, was es bedeutet, täglich krauses Haar bändigen zu müssen, um eine Arbeit zu finden, und über die bigotte Politik der Weissen. Daneben sehnt sie sich nach ihrer Jugendliebe Obinze, der sich nach traumatisierenden Jahren in England zuhause korrupten Geschäften hingibt. – Americanah ist ein Roman, nach dessen Lektüre die Sicht auf die Welt eine andere ist.
Taiye Selasi:
Diese Dinge geschehen nicht einfach so
Wir waren Immigranten. Immigranten gehen weg. – Wir waren Feiglinge. – Wir haben uns geliebt. So endet die Zwiesprache zwischen Folé und ihrem verstorbenen Mann Kweku Sai, nachdem sich die sechsköpfige, über Weltstädte und Kontinente zersplitterte Familie zur Beerdigung des Vaters in Ghana trifft. Einst angesehener Chirurg in Boston, verliert dieser alles, was ihn ausmacht: Selbstachtung, Antrieb, Status. Und tut, was er kann: er geht weg. Eine fulminate Familiensaga. In einer Sprache komponiert, die einen nur staunen lässt!
Marie NDiaye:
Drei starke Frauen
Fulminant, grossartig, das stärkste Buch ever! Drei Geschichten erzählen virtuos von drei Afrikanerinnen, die im Grenzbereich zwischen Realität und Traum den Grausamkeiten des Schicksals auf unterschiedliche Weise trotzen. Zutiefst erschütternd. Diese Frauen gehen einem nie mehr aus dem Kopf.