Lesen Sie auch? Die hier vorgestellten Bücher empfehle ich herzlichst zur Lektüre — weil sie Seite für Seite jeden gedruckten Buchstaben wert sind. Fehlt Ihr Lieblingstitel? Dann schreiben Sie mir und ich lese ihn.
Marco Balzano:
Wenn ich wiederkomme
Welche Tragödien Migration mit sich bringen kann, zeigt Marco Balzano in «Wenn ich wiederkomme» eindrücklich auf. Im ersten Drittel lernen wir eine Familie kennen, deren Mutter in einer Nacht-und-Nebel-Aktion abreist, um nach Italien arbeiten zu gehen. Ihre Kinder und der trinkende Mann sind paralysiert und verweigern der Mutter bald die täglichen Videoanrufe. Im zweiten Drittel wird ihre Arbeitsrealität als Altenpflegerin und Kinderfrau gezeigt. Und im letzten Drittel passiert etwas, das die Mutter zwingt heimzukehren. Sie kehrt als gebrochene Frau heim, die alles opferte und noch mehr verlor. Und versinkt, wie viele andere Arbeitsmigrantinnen auch, in eine Depression, die in Rumänien schlicht die «italienische Krankheit» genannt wird.
Stefania Auci:
Die Löwen von Sizilien
I leoni di Sicilia ist Buddenbrooks auf Italienisch — Aufstieg und Fall der bedeutendsten Unternehmerfamilie Siziliens. 1799 verlassen die Brüder Paolo und Ignazio Florio ihr erdbebenzerstörtes Dorf in Kalabrien. Sie setzen nach Palermo über, mit nichts in der Hand ausser dem Willen, es in der Metropole zu schaffen. Trotz Anfeindungen gelingt es ihnen, ihre «drogheria» bald als eines der führenden Geschäfte für Kolonialwaren zu etablieren. Als Paolo stirbt, zieht Ignazio dessen Sohn Vincenzo auf und führt ihn ins Geschäft ein. Er schickt ihn nach England, wo die Industrialisierung bereits begonnen hat, und überträgt ihm bald Verantwortung. Der junge Vincenzo erweist sich als Visionär und skrupellose Stratege, Casa Florio erlangt dank ihm Einfluss und unermesslichen Reichtum. Die Florio heiraten sich in den italienischen Adel ein und nichts mehr scheint ihnen im Weg zu stehen. Doch bringen Hochmut und Schicksalsschläge i leoni der vierten Generationen zu Fall.
Raffaella Romagnolo:
Bella Ciao
«Destino» heisst dieses überwältigende Werk von Raffaella Romagnolo in Originalsprache. Ein Titel, der dem Inhalt besser entspricht als das leichtfüssige «Bella Ciao» der deutschen Übersetzung. Denn das Schicksal dirigiert das Leben der beiden Protagonistinnen. Derweil die eine in grösster Not nach Übersee emigriert, bleibt die andere, scheinbar mit dem glücklicheren Los in der Hand, im Piemont. Während die Migrantin in Manhattan unverhofftes Glück erfährt, durchlebt Italien die beiden Weltkriege. Der Roman flicht Geschichten von Krieg und Leid, von Widerstand und Liebe zusammen. Diesseits und jenseits des Ozeans und über drei Generationen hinweg. Geschichten, wie sie das 20. Jahrhundert schrieb.
Paolo Giordano:
Den Himmel stürmen
«Ich sah sie nachts im Pool baden. Sie waren zu dritt und sehr jung, wie ich damals auch, fast noch Kinder.» Paolo Giordano verfolgt in seinem neuen kraftvollen und verstörenden Roman vier junge Freunde über zwanzig Jahre hinweg. Was leichtfüssig mit einer Jugendliebe beginnt, nimmt von Seite zu Seite an Gewicht und Dramatik an. Erzählt wird aus der Perspektive von Teresa. Im Fokus steht aber stets der leuchtende und unberechenbare Bern, der einem Kometen gleich unwillkürlich in den Abgrund rast. Gemeinsam mit Tommaso und Nicola wächst er unter dem selbstherrlichen Schutz eines Ziehvaters auf einem abgeschiedenen Bauernhof in Apulien auf. Er und seine zwei Wahlbrüder erfahren erst später, was diese fanatische Erziehung mit ihnen gemacht hat. – Paolo Giordano seziert seine Protagonisten geradezu. Man fragt sich, woher er diese Geschichten nimmt, und wie ihm solch tiefe Einblicke ins menschliche Sein gelingen.
Donatella Di Pietrantonio:
Arminuta
«Als Dreizehnjährige kannte ich meine andere Mutter nicht mehr.» So beginnt die Geschichte des Mädchens, das mit einem Koffer und einem Sack voller Schuhe bei einer ihr unbekannten Familie abgeliefert wird. Im abgelegenen Dorf in den Abruzzen, wo das Leben grob und karg ist, nennen sie fortan alle Arminuta, die Zurückgekommene. «Mit zwei lebenden Müttern wurde ich zum Waisenkind.» Ein schlichte, stiller Roman zu den grossen Themen Zugehörigkeit und Verantwortung.
Vincenzo Todisco:
Das Eidechsenkind
Das Gesetz war so menschenunwürdig wie unumstösslich: Gastarbeiter durften in der Schweiz über Jahre hinweg nur ohne ihre Kinder herkommen und arbeiten. Was dieses Konzept für menschliche und familiären Tragödien mit sich brachte, erzählt der für den Schweizer Buchpreis nominierte Roman von Vincenzo Todisco. – Das Kind muss sich verstecken. Unter der Kredenz, im Schrank, in der Abstellkammer. Wenn es hustet, wird es unter einen Berg von Decken und Kissen gesteckt und das Radio wird aufgedreht. Um der Isolation zu entkommen, flüchtet es immer mehr in die Parallelwelt seiner ersten Jahre bei Nonna Assunta. So wie der Junge wächst und verkümmert, nimmt auch die Lebenskraft der Eltern ab. Und ihr Traum der Rückkehr nach Italien.
Francesca Melandri:
Alle, ausser mir
Der Roman dieser römischen Autorin umspannt drei Generationen — ist ein Panoptikum Italiens im 20. Jahrhundert und ein schonungsloses Porträt seiner Gesellschaft. Illaria Profeti, Lehrerin in Rom, 47 Jahre alt, wird an dem Tag mit der Vergangenheit ihres Vaters konfrontiert, als ein junger Migrant vor ihrer Türe steht und behauptet, ihr Neffe zu sein. Höchst irritiert beginnt sie das Leben ihres Vaters zu recherchieren und bringt Stück um Stück seine faschistische Vergangenheit, seine Begeisterung für die arische Reinheitslehre, seine Zeit als Soldat im Abessinienkrieg und seine afrikanische Familie ans Licht. Diesen unglaublichen Wandel vom Saulus zum Paulus kann sie nicht mit Attilio Profeti, ihrem schillernden und liebenswerten Vater, in Einklang bringen. — Die «grosse literarische Psychoanalyse Italiens» (Die Welt) ist nicht nur als Familiensage äusserst lesenswert, sondern beunruhigt auch in höchstem Grade in Bezug auf die aktuellen Migrationsfragen. Francesca Melandri wurde für dieses Buch mit dem höchstdotierten Literaturpreis Italiens nominiert, dem Premio Strega.
Paolo Giordano:
Schwarz und Silber
Dieses schmale Büchlein ist eine wunderbare Liebeserklärung an Signora A., die Haushälterin eines jungen Paares mit Kind. An ihre stoische Präsenz, ihre dezidierte Meinung zu allem und jedem, an ihren Begriff von Moral, ihre Verlässlichkeit — gar auch an ihren verlässlichen Geiz. Als sie stribt, gerät die Welt des permanent überforderten Paares aus den Fugen. Die Trauer ist gross, der Verlust riesig. Doch dürfen sie überhaupt so empfinden, wo sie doch nicht einmal zur Familie gehören?
Paolo Giordano:
Die Einsamkeit der Primzahlen
Paolo Giordano, Doktorand der Physik, räumt mit 26 als jüngster Gewinner aller Zeiten den wichtigsten Literaturpreis Italiens ab – den Premio Strega. Sein Roman handelt von einer Wahlverwandtschaft zweier, die beide als Kinder schwer traumatisiert worden sind, und später ihre Jugend und das Erwachsenwerden parallel durchlaufen. Schicksalhaft füreinander bestimmt, finden sich Alice Della Rocca und Mattia Balossino jedoch nur in der Einsamkeit des anderen. – Ein berührendes Drama. Beängstigend, realistisch, schnörkellos.
Silvia Avallone:
Ein Sommer aus Stahl
Anna und Francesca, unzertrennbar, erleben einen ersten Sommer lang Lust und Leidenschaft im trostlosen Industrieort Piombino. Sie stürzen sich ins Meer und waten in den Algen, provozieren nach links und rechts, und verdrängen dabei meisterlich ihre familiären Dramen. Die Aggression und Kontrollsucht der Väter, die Perspektivlosigkeit der Brüder, die Verzweiflung der Mütter. Traumdestination der Mädchen ist Elba, das nur einige Kilometer entfernt unerreichbar bleiben wird.
Antonio Pennacchi:
Canale Mussolini
Antonio Pennacchi beschreibt in seinem Familienepos der Faschismus in Italien aus Perspektive einer Bauernfamilie: Die Peruzzis aus dem Veneto werden zusammen mit Tausenden anderen in das malariaverseuchte Niemandsland südlich von Rom umgesiedelt, wo ihnen eine menschenwürdige Existenz und eine Zukunft versprochen wird ... Die Begeisterung für Mussolini, der Glaube das italienische Grossreich trägt. – In direkter Rede erzählt, schonungslos und ungekünstelt, ein grossartiges Buch!