Lesen Sie auch? Die hier vorgestellten Bücher empfehle ich herzlichst zur Lektüre — weil sie Seite für Seite jeden gedruckten Buchstaben wert sind. Fehlt Ihr Lieblingstitel? Dann schreiben Sie mir und ich lese ihn.
Anne Berest:
Die Postkarte
Auf der Postkarte ohne Absender stehen nur vier Namen: Ephraïm, Emma, Noemi, Jacques. Alle vier wurden vor der Geburt von Anne Berests Mutter deportiert und starben in Auschwitz. Mehr als 60 Jahre später taucht diese Postkarte auf — und Anne Berest beginnt über ihre Vorfahren, die Familie Rabinovitch, zu recherchieren. Entstanden ist literarischer Coup, der seit seinem Erscheinen im Herbst 2021 auf der französischen Bestellerliste steht. «Eine Suche, in der sich Thriller und Requiem vereinen.» Le Point «Alle drei, vier Sätze umarmt es einem das Herz, wenn Berest voller Liebe, Witz und Wärme Menschen aufleben lässt, die sich ärgern, sich freuen, die arbeiten, die sich lieben oder auch nicht, die planen und hoffen und bei alldem so tragisch ahnungslos sind, an das gute Ende, an die Vernunft des Menschen glaubend, dass man laut aufschreien möchte.» Jüdische Allgemeine
Adania Shibli:
Eine Nebensache
Negev-Wüste, 1949. Ein palästinensisches Beduinenmädchen wird von israelischen Soldaten, die die Grenze zu Ägypten sichern, aufgegriffen, geschändet, getötet und verscharrt. Exakt 25 Jahre kommt ein weiteres palästinensisches Mädchen zur Welt, das als erwachsene Journalistin von diesem Verbrechen erfährt. Von dieser «Nebensache» im Erbauen des neuen jüdischen Staates. Die Journalistin überwindet Ängste und Checkpoints, recherchiert im israelischen Militärmuseum und sucht am Schauplatz des Verbrechens nach Zeichen. — Adania Schiblis schmaler Band ist eine Wucht, ein tonnenschweres Geschütz gegen Gewalt und für Gerechtigkeit.
Hila Blum:
Wie man seine Tochter liebt
Eine Frau steht auf einer dunkeln Strasse in Groningen, fünftausende Kilometer ihrer Heimat entfernt, und beobachtet durch die erleuchteten Fenster zwei Mädchen beim Spielen. Sie kennt die Kinder nicht, sie wusste bis vor Kurzem nicht einmal von deren Existenz. Es sind die Töchter ihrer eigenen Tochter Lea. «Wäre sie fromm geworden, einer Sekte beigetreten, einer Macht erlegen, die sie ihres eigenen Selbst beraubte … Aber sie war Lea geblieben, sie war Lea, und sie wollte nicht mehr meine Tochter sein.» Hila Blum zeichnet in feinen kurzen Episoden das Schicksal einer Frau, die eigentlich einsehen sollte, dass man das Leben seiner Kinder nicht lenken kann — wie sehr man sie auch liebt. Grossartig!
Mirna Funk:
Zwischen du und ich
Die in Ostdeutschland aufgewachsene Nike hat eigentlich keine jüdische Identität — sondern eine kommunistische. Was ihrer Grossmutter widerfuhr, prägte ihre Mutter und entsprechend auch sie selbst: So nimmt Nike als Kind der third generation ihre Beziehungsunfähigkeit als Gottgegeben hin. Bis sie Mitte Dreissig nach Tel Aviv auswandert, ihr Jüdischsein zu erforschen, und dabei auf Noam trifft. Auch Noam ist Opfer seiner Geschichte. Bei ihm ist die Gewalterfahrung häuslich und männlich und zwar durch seinen Onkel so profund geprägt, dass er selbst als Erwachsener nicht aus dessen System ausbrechen kann. Nike und Noam versuchen sich in der Liebe. Es klappt nicht.
Ayelet Gundar-Goshen:
Wo der Wolf lauert
«Ich sehe im Geist diese winzigen Fingerchen, die eines Neugeborenen, und versuche zu begreifen, wie sie zu den Fingern eines Mörders heranwachsen konnten. Der tote Junge heisst Jamal Jones. Auf dem Bild in der Zeitung sind seine Augen samtschwarz. Mein Junge heisst Adam Schuster. Seine Augen sind blau wie das Meer von Tel Aviv. Es heisst, er habe ihn umgebracht. Aber das stimmt nicht.» Lilach — Mutter, Ehefrau und Israelin — verzweifelt inmitten der Kulisse des amerikanischen Traums an dieser Wahrheitssuche. Kann es wirklich sein, dass ihr Junge den schwarzen Jungen ermordet hat? Was hat sie übersehen und seit wann kennt sie ihr Kind nicht mehr?! Während sich die Anzeichen um Motiv und Tötung verdichten, verhärtet sich die Lebensrealität der kleinen Familie rasant.
Dror Mishani:
Drei
Wie beschaulich Dror Mishani seinen neuen Roman «Drei» zu beginnen vermag und wie abgrundtief gemein plötzlich die Wendung — Nein, nein, nein, möchte man ihm zuschreien, das ist nun wirklich nicht mehr lustig. Mishani porträtiert drei lebenshungrige, verunsicherte und gleichwohl selbstbewusste Frauen in präzisen Psychogrammen. Und steigt dabei so empathisch und konkret in ihre Gefühlswelt ein, dass man nur staunen kann. «Drei» ist in Israel bereits ein Megabestseller.
Alfred Bodenheimer:
Im Tal der Gebeine: Rabbi Kleins fünfter Fall
Die Krimis um Rabbi Klein sind Kult. Der Rabbiner und Familienvater Gabriel Klein kümmert sich mit Hingabe um seine Zürcher Gemeinde, kann jedoch – wie die Katze das Mausen – das Ermitteln nicht lassen, wenns einen Mordfall im jüdischen Milieu gibt. In seiner Doppelrolle strebt der Rabbiner danach, Schuldige und Unschuldige zu scheiden und für Gerechtigkeit zu sorgen. «Nur», so sein Schöpfer, der Judaistik-Professor Alfred Bodenheimer, «scheitert Klein mit diesem Vorhaben grandios. Er meint, dank seiner Position den besseren Durchblick zu haben, kommt aber genauso an seine Grenzen wie alle anderen auch.» Die Krimis haben Suchtpotenzial – zum Glück erscheinen sie in so hoher Kadenz!
Eshkol Nevo:
Über uns
Ein Haus in Tel Aviv, drei Etagen, drei Menschen. Drei, die dringend reden müssen und in diesem hinreissenden Buch allesamt eine Art Beichte ablegen. Jede Lebensgeschichte ist ein Monolog — und so mutet das Lesen dieser Bekenntnisse an, als ob man Psychotherapeutin wäre und die Bewohner auf der Couch liegen hätte. Was vordergründig leichtfüssig daherkommt, entfaltet in seiner Überlappung eine überraschende Dichte.
Szczepan Twardoch:
Der Boxer
Ekelhaft brutal, dramaturgisch genial und filmisch-dicht erzählt — so schlägt der neue Roman von Szcepan Twardoch selbst seine kritischsten Leser in der ersten Sequenz k.o.. Bei einem Boxkampf bezwingt der Jude Shapiro seinen Kontrahenten, einen waschechten Polen. Und steigt nach diesem Kampf zum starken Mann an der Seite des Unterweltpaten Kaplica auf — und in den Krieg der Unterwelt ein. In blindem Gehorsam treibt Shapiro für den Paten Schutzgelder ein, mordet skupellos und drogt und hurt durch sich das Warschau der Vorkriegszeit. Er ist unverwundbar, wird gefeiert, bewundert, geliebt. Seinen Schutzbefohlenen ist er zärtlicher Vater, Mann und Förderer — wenn ihn nur nicht eine fatale Affäre alle Zugehörigkeit vergessen liesse.
Jonathan Safran Foer:
Hier bin ich
Alle quasseln, quatschen und diskutieren andauernd, kommentieren sich und alles Gesagte in Echtzeit und schwimmen in einem Wörterstrom, der nie zu versiegen scheint. Jacob und Julia, drei Söhne, ein Vater, eine Mutter und der Cousin, der aus Israel angereist ist. Jacob liebt sie alle und sucht dennoch aus seinem prall gefüllten Leben zu fliehen. «Hier bin ich» erzählt die Geschichte einer Trennung so dialogstark, dass man, wie Jacob, endlich mal nur noch Ruhe haben will. Neben den grossen Fragen des Lebens kommt in diesem phänomenalen Roman auch das Profane zur Sprache: Karriere, Konsum, Sex-Chats und ein inkontinenter Hund.
Deborah Feldman:
Unorthodox
Deborah Feldman wächst in einer ultraorthodoxen Gemeinde in Brooklyn bei ihren Grosseltern auf; nicht sonderlich lieblos, vielmehr einfach im normalen Leben religiöser Extremisten. Sie erzählt präzise und beinahe unbeteiligt von ihrer Kindheit, von der Flucht in die verbotene Welt der Bücher (wo sie sich vor allem in Jane Austens Frauenfiguren des 19. Jahrhunderts wiederfindet), der arrangierten Heirat mit einem durchaus guten Mann. Sie erzählt von der Erkenntnis, dass sie nicht einmal als erwachsene Frau ein individuelles Leben führen kann, sondern stets der obsessiven Überwachung der Gemeinschaft unterliegt. Und davon, wie sie merkt, dass sie nur überleben wird, wenn sie sich befreit. — Unorthodox kommt gleich nach seinem Erscheinen auf die Bestsellerliste der New York Times und ist sofort ausverkauft.
Zeruya Shalev:
Schmerz
An der Lesung in Basel sagt Zeruya Shalev: «Well, I am actually not good in hating». Und das, obwohl sie selber wie die Protagonistin ihres neuen Romans Opfer eines Selbstmordattentates ist. Iris' Verbitterung in dem Roman «Schmerz» ist keine politische sondern vielmehr eine persönliche, da die Schmerzen sie stets zu diesen wenigen Sekunden zurückzwingen, die ihr Leben veränderten. Was führte dazu, dass sie exakt dann genau dort war, als diese Bombe hochging? Ihr Mann, ihre Kinder, ihrer aller Leben dreht sich um diesen Moment. Iris ist gewillt, dem Schmerz ein Ende zu bereiten, und begegnet ihrer Jugendliebe Eitan, einem Arzt und Schmerz-Spezialisten. Dem Mann, der sie als Erster traumatisierte.
Gary Shteyngart:
Kleiner Versager
Gibt es eine komisch-tiefgründigere Erzählweise als diejenige Shteyngart? Der Jude, Russe und Amerikaner hat seine Memoiren geschrieben — und das mit vierzig (was für ihn wie 75 oder 80 ist). Konsequent aus der Perspektive seines jeweiligen Alters geschrieben, schildert der kleinwüchsige und asthmatische Gary den Lauf der Dinge. 1979 wandert die Familie aus der Sowjetunion nach Amerika aus, Vater, Mutter und Igor. Wohin es geht? «Zum Feind.» Aus Igor wird Gary, aus Leningrad Brooklyn. Nur eines bleibt: dass er den Erwartungen seiner Eltern nie genügen wird. Berührend und grossartig!
Ayelet Gundar-Goshen:
Löwen wecken
Die israelische Schriftstellerin Ayelet Gundar-Goshen lässt ihren Protagonisten in «Löwen wecken» eine Schuld aufladen, die nicht nur ihn selber sondern auch sein ganzes Umfeld in den Grundfesten erschüttert. Aus Vertrauen und Gewissheit wird Misstrauen und Angst. Das familiäre Glück kommt ihnen allen innerhalb dieser einen Sekunde abhanden, in der jemand getötet und Fahrerflucht begangen wird. Kaum zu fassen, dass dieser Text aus derselben Feder stammt wie das fulminant-komische, durch und durch der jiddischen Erzählkunst verschriebenes Debut «Eine Nacht, Markowitz» aus dem Jahr 2013.
Zeruya Shalev:
Für den Rest des Lebens
Dina, 46, will unbedingt noch ein Kind. Nizan, ihre 16-jährige Tochter, will unbedingt unabhängig werden. Chemda, Dinas sterbenskranke Mutter, träumt sich zurück in ihre Kindheit im Kibbuz und zu ihrem Mann, der einst ins Schiff nach Israel gesetzt worden war, um fortan dort auf seine Ermordeten zu warten. Und Avner, deren Sohn, leidet immer noch darunter, dass Mutter ihn zu sehr und Dina zu wenig geliebt hat. Wahnwitzig, dicht, glorios.
Thomas Meyer:
Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse
Ein Muss für alle, die in den Zürcher Stadtkreisen 2, 3 oder 4 wohnen. Dem jungen orthodoxen Studenten Mordechai Wolkenbruch, kurz: Motti, passiert, was nicht passieren darf – er verliebt sich in eine Schickse. Hinreissend komisch und hinreissend gut, in einer Mischung aus Hochdeutsch und Jiddisch geschrieben, lernen wir durch Mottis Augen das nichtjüdische Zürich mit all seinen seltsamen Ritualen kennen!
Leon de Winter:
Das Recht auf Rückkehr
Apokalyptische Sicht auf das Jahr 2048: Israel ist traumatisiert, isoliert und veraltert. Ein Paar verliert ihr vierjähriges Kind, wird darob wahnsinnig und lässt sich auf dubiose Rückholversprechungen ein. Dass Leon de Winter sich nach Veröffentlichung dieses islamkritischen Buches noch öffentlich in Amsterdam bewegt, ist erstaunlich.