Lesen Sie auch? Die hier vorgestellten Bücher empfehle ich herzlichst zur Lektüre — weil sie Seite für Seite jeden gedruckten Buchstaben wert sind. Fehlt Ihr Lieblingstitel? Dann schreiben Sie mir und ich lese ihn.
Lion Christ:
Sauhund
Rauschhaft und wie mit einen Retro-Filter gefilmt, schauen wir Flori bei seiner erster Berührung mit einem anderen Jungen zu. Zuerst zufällig. Dann fahren sie mit dem Auto in den Wald. Niemand darf nichts wissen. Selbstverständlich hält dieses Leben gar niemand aus. Flori muss in die Stadt. Ohne sich zu verabschieden sucht er sein Liebesglück in München. 1983. Man trifft sich im Park. Es erscheinen Schwulen-Annoncen in den Zeitungen. Erste Aids-Meldungen schwappen aus den USA über. Schwulenseuche. Schwulenglück. Flori begreift das Spiel der unverbindlichen und bald käuflichen Liebe schnell und entwickelt sich zu einem richtigen Arsch. «Mit Sauhund setzt Lion Christ Flori allen vergessenen Liebenden des ersten AIDS-Jahrzehnts ein rauschhaftes Denkmal.»
Necati Öziri:
Vatermal
Arda kennt seinen Vater nicht, doch will er unbedingt, dass dieser ihn kennenlernt. Deshalb erzählt er ihm seine Lebensgeschichte. Unschlüssig, wie den unbekannten Vater anzusprechen, entscheidet er sich weder für Baba noch für Babam sondern für den Vornamen Metin: «Erzählen ist wie Wasser, Metin, einmal unterwegs, findet es seinen Weg von selbst.» Arda berichtet wie seine Mutter nach Vaters Verschwinden in Deutschland den Boden unter den Füssen verliert und wie die Schwester weggegeben wird, weil Mutter arbeiten muss. So wie schon deren Mutter. Er erzählt von seinen Freunden, die allesamt ohne Väter aufgewachsen sind — und unter permanenter Vorverurteilung von Behörden und Gesellschaft. «Die Männer, mit denen wir in Berührung kamen sorgten dafür, dass wir Angst bekamen, vor der Berührung mit Männern und anderen Jungs.» Necati Öziris Debüt ist eine Wucht. Und wer die Chance hat, diesen umwerfenden Autoren auf der Bühne zu erleben, der kann sich auf noch viel mehr Wucht freuen!
Terezia Mora:
Muna oder Die Hälfte des Lebens
Als sie ihn das erste Mal sieht, den Mann, ist es um sie geschehen. Nach einer gemeinsamen Nacht verschwindet er mit dem Mauerfall und sie sehen sich erst Jahre später im Westen wieder. Ihre Liebe ist grenzenlos wie damals. Sie begehrt ihn, bedrängt ihn, zwingt sich ihm geradezu auf, und lässt sich betrügen, demütigen, würgen, schlagen. Sie gelobt nach jedem neuen Gewaltexzess, ihn einfach noch besser zu lieben. Allen Warnungen von Mutter und Freundinnen zum Trotz, sinkt sie tiefer in diese Beziehung und löscht sich selber bis zur Nichtexistenz aus. Fassungslos hören wir zu, wie die Ich-Erzählerin, eine schöne und kluge, promovierte Literaturwissenschafterin, in kristallklarer Sprache ihre Liebessucht bis ans bittere Ende ausformuliert.
Philipp Oehmke:
Schönwald
Die ganze Familie trifft sich zur Eröffnungsfeier des queeren Buchladens der Schwester in Berlin. Bruder Eins fliegt aus NYC ein, Bruder Zwei reist mit dem Maybach seine Schwiegervaters mitsamt Kind und Kegel an, die Eltern kommen mit dem Zug, dabei wären sie lieber in Köln geblieben. Die Eröffnung mündet in einer mittleren Katastrophe, die weder Mutter noch der New Yorker retten können. Wie gross die persönlichen Katastrophen aller Familienmitglieder jedoch wirklich sind, lässt sich noch nicht erahnen. Philipp Oehmke rollt jede Lebensrealität in schönster Weise auf — «Schönwald» ist Jonathan Franzen in Deutsch! «Der immer ersehnte, nie gelieferte aktuelle deutsche Gesellschaftsroman, hier ist er.» Jens Jessen, DIE ZEIT
Marlene Streeruwitz:
Tage im Mai
Die Sätze schweben in der Luft, sind Gedankenfetzen, Anekdoten, Selbstgespräche, vielmehr Leerstellen denn Handlungsanweisungen. Es monologisieren alternierend die Mutter, eine mittellose Übersetzerin, ihre Tochter, eine sich durchs Leben schlingernde Aktivistin, sowie die Grossmutter. Alle drei Frauen sind uneheliche Kinder. Alle sind sie geprägt von der Absenz ihrer jeweiligen Väter. Und alle drei suchen den Weg zurück ins Leben nach der Corona-Pandemie. Die Entfremdung zwischen den drei Frauen scheint unverrückbar. So mäandrieren sie jeweils zwischen Wien, Salzburg, Zürich und Netflix in dieser neuen Welt, in der Krieg wieder zum Alltag wird.
Sarah Jollien-Fardel:
Lieblingstochter
Zwei Schwestern beanspruchen jeweils für sich, Lieblingstochter des Vaters zu sein. Die eine nimmt sich das Leben, die andere versucht ihr späteres Leben lang der rohen und radikalen Brutalität, der sie ausgesetzt waren, zu entkommen. Zuhause war es simpel: Der Vater schlug, systematisch und ritualisiert. Die Mutter schaute weg, ebenso systematisch und ritualisiert. Dass sich selbst Zeugen dieser Kindheit Jahre später kaum trauen, das Gewesene zu benennen, zeigt den Sprengstoff von dysfunktionalen Familien exemplarisch auf. «Jollien-Fardel erzählt direkt und atemlos. Die Wucht, mit der sie die Verheerungen entfaltet, packt.» NZZ am Sonntag
Daniela Dröscher:
Lügen über meine Mutter
Mutters Körpergewicht ist Seismograph des ganzen Unglücks: Wäre sie weniger dick, gelänge ein gutes Leben. Vater ist überzeugt, durch Talent, Fleiss und Geschick alles zu schaffen — wäre da nur nicht seine Frau. Aufgewachsen im Höher schneller weiter der Nachkriegszeit weiss er insgeheim, dass sein Aufstieg auf der Ausbeutung der Frau basiert. Dennoch oder vielleicht gerade deswegen, lässt er keine Gelegenheit aus, sie zu beschämen. Die Scham ist ansteckend, bald übernimmt die Ich-Erzählerin, das Mädchen Ela, diesen Blick auf Mutter, die mit ihrer Fülle und Grossherzigkeit so gar nicht in die Provinz passen will. Ein sagenhafter Bericht — genial für alle, die in disfunktionalen Familien aufgewachsen sind!
Wolf Haas:
Müll
Das Eintauchen in «Müll» ist mehr als Lesegenuss — es ist Lebensgefühl pur. Brenner, Simon, ehemaliger Polizist, arbeitet jetzt in einer Wiener Mülldeponie. Als dort plötzlich ein Knie auftaucht, später ein zweites Körperteil und danach ein drittes — nimmt Brenner Witterung auf und beginnt auf eigene Faust zu ermitteln. Warum vom Herz des zerlegten Toten jegliche Spur fehlt, will ihm einfach nicht in den Kopf. Gleichwenig seinen ehemaligen Kollegen der Kripo … Und dann ist da noch eine junge Frau. Und ein tauber Müllmann. Und eine Fahrt um Leben und Tod mit dem Lastwagen über die Grenze.
Colm Tóibín :
Der Zauberer
Muss man sich eine weitere Biografie über Mann antun, dessen Leben und Werk bereits mannigfach bis in den letzten Winkel ausgeleuchtet ist? Ja, man muss! Im neuen Roman des Iren Colm Tóibín wird Thomas Mann als Aussenseiter gezeichnet: «Seine Homosexualität, die er hinter der Familienfassade verborgen hat, ist dabei nur eine der vielen Fremdheitserfahrungen, aber vielleicht doch der entscheidende Riss, der schon den jungen Thomas für immer von seinen Mitmenschen trennt und erst den gnadenlosen und kalten Blick auf die Zeitgenossen ermöglicht, der dann den Schriftsteller Thomas Mann auszeichnet.Doch schon die brasilianische Mutter macht Thomas zu einem Außenseiter im protestantischen Lübeck. Dann der Absturz, der Vater stirbt, der Umzug nach München. Plötzlich gehört man nicht mehr der besten Gesellschaft an. Man bestaunt von aussen die Pringsheims, in deren Familie Thomas einheiraten wird, ohne jemals einer von ihnen zu sein. Er bleibt Provinz.» (Frank Hertweck, SWR2)
Shida Bazyar:
Drei Kameradinnen
«Wir sind nicht so anders als ihr. Das denkt ihr nur, weil ihr uns nicht kennt. Weil ihr keine Kindheit hattet, die so roch wie unsere, und weil ihr keine Freundinnen habt, mit denen ihr diese stinkende Kindheit hättet teilen können.» — Saya, Hani und Kasih treffen sich nach Jahren, um die Hochzeit einer Jugendfreundin zu feiern. Am Vorabend des Festes noch lachen sie und kiffen und erzählen einander auf der Dachterrasse von ihren absurden Alltagserlebnissen. Von Rassismus, Ignoranz und Sexismus. Doch dann bahnt sich die Katastrophe an. Ein Haus geht in Flammen auf. Menschen sterben. Kasih, die Ich-Erzählerin, rapportiert atemlos und mit gigantischer Wut im Bauch von der Kumulation der Ereignisse — und führt uns dabei schön an der Nase rum.
Benedict Wells:
Hard Land
Wie das Eintauchen ins Meer an einem heissen Sommertag ist dieser Roman von Benedict Wells: erquickend und magisch. Die Coming-of-Age-Geschichte ist in Missouri im Jahr 1985 angesiedelt. Der fünfzehnjährige Sam will von zuhause abhauen, weg von seiner todkranken Mutter und dem unausstehlichen Vater. Weg von der Vorstellung, später mit Dad alleine zu sein. Und weg von seiner eigenen Ungelenkigkeit, die ihn nur hindert und hemmt. Benedict Wells erzählt in einer schmerzhaften Präzision von den Nöten dieses Jungen. Er nimmt ihn an der Hand und begleitet ihn durch die schweren Jahre.
Bernhard Schlink:
Abschiedsfarben
Bernhard Schlink konstruiert in diesem Erzählband neun Leben in wenigen, präzisen und kunstvoll gesetzten Strichen — und zerstört deren Lieben neunmal genauso verlässlich. Überraschend und beglückend zu lesen. Ein Hochgenuss für alle, die sich am ewiggleichen Bildungsbürger-Setting nicht stören.
Olivia Wenzel:
1000 Serpentinen Angst
«Ich habe mehr Privilegien, als je eine Person in meiner Familie hatte. Und trotzdem bin ich am Arsch. Ich werde von mehr Leuten gehasst, als meine Grossmutter es sich vorstellen kann.» Olivia Wenzel ist die Tochter einer Punk-Mutter in der DDR, die immer nur wegwollte, und Enkelin einer linientreuen DDR-Bürgerin. Sie ist auch Zwillingsschwester des Neunzehnjährigen, der sich vor einen Zug wirft, und Tochter eines Angolaners, der Geld und E-Mails schickt — exakt zweimal im Jahr. Das Debüt von Olivia Wenzel ist eine Sensation, sprachlich wie auch formal. In der ersten Hälfte des Buches wird die Autorin befragt, unerbittlich, penetrant. In der zweiten Hälfte dreht sich der Spiess und nun ist sie es, die Fragen stellt.
Monika Helfer:
Die Bagage
Schönheit war im voralberg'schen Tal vor hundert Jahren mehr Fluch als Segen für eine Frau von niedrigem Stand. Vor allem dann, wenn der Ehemann gerade in den italienischen Bergen fürs Vaterland kämpfte. Monika Helfer erzählt die Geschichte von Josef und Maria, ihren Grosseltern. Vor allem von Maria, die sechs Kinder gebar und im Alter von 32 Jahren starb. Ihr letztes Kind, der Balg, wurde vom heimgekehrten Vater nie beim Namen genannt, denn es galt als sicher, dass dieses die Brut des schönen Deutschen war, der immer wieder auf dem Hof gesichtet wurde.
Stephan Pörtner:
Pöschwies
Irgendwie ist etwas schief gelaufen und Köbi Robert landete im Knast. Pöschwies. Für sieben lange Jahre. Endlich wieder draussen, findet der Privatdetektiv sein Zürich dermassen verändert vor, dass er sich kaum mehr auskennt. Er sucht an alte Bekanntschaften anzuknüpfen, doch die sind selbstgefällig, opportunistisch und fett geworden. Niemand mag ihn in seiner Mission Koch-Areal unterstützen, diesem Auftrag, den er aus der Pöschwies mitgenommen hat. So verstrickt sich Köbi Robert in einen Fall, der «tief in die Welt der Politik reicht. Grün wie noch nie, doch abgefuckt wie immer.»
Dörte Hansen:
Mittagsstunde
Brinkebüll liegt in Nordfriesland, der Heimat von Dörte Hansen. Die Menschen in ihrem Roman sprechen Platt und lieben ihre Heimat. Und wundern sich, wann denn der Wandel begonnen hat und ihr Dorf verschwunden ist. Heimkehrer und Hauptfigur Ingwer Feddersem, Dozent für Archäologie in Kiel, tastet sich vor und zurück in seiner Erinnerung — und konstatiert, dass das bäuerliche Leben im Einklang mit der Natur und seinen festen Gewohnheiten wohl auch nur eine Epoche war.
Alfred Bodenheimer:
Im Tal der Gebeine: Rabbi Kleins fünfter Fall
Die Krimis um Rabbi Klein sind Kult. Der Rabbiner und Familienvater Gabriel Klein kümmert sich mit Hingabe um seine Zürcher Gemeinde, kann jedoch – wie die Katze das Mausen – das Ermitteln nicht lassen, wenns einen Mordfall im jüdischen Milieu gibt. In seiner Doppelrolle strebt der Rabbiner danach, Schuldige und Unschuldige zu scheiden und für Gerechtigkeit zu sorgen. «Nur», so sein Schöpfer, der Judaistik-Professor Alfred Bodenheimer, «scheitert Klein mit diesem Vorhaben grandios. Er meint, dank seiner Position den besseren Durchblick zu haben, kommt aber genauso an seine Grenzen wie alle anderen auch.» Die Krimis haben Suchtpotenzial – zum Glück erscheinen sie in so hoher Kadenz!
Vincenzo Todisco:
Das Eidechsenkind
Das Gesetz war so menschenunwürdig wie unumstösslich: Gastarbeiter durften in der Schweiz über Jahre hinweg nur ohne ihre Kinder herkommen und arbeiten. Was dieses Konzept für menschliche und familiären Tragödien mit sich brachte, erzählt der für den Schweizer Buchpreis nominierte Roman von Vincenzo Todisco. – Das Kind muss sich verstecken. Unter der Kredenz, im Schrank, in der Abstellkammer. Wenn es hustet, wird es unter einen Berg von Decken und Kissen gesteckt und das Radio wird aufgedreht. Um der Isolation zu entkommen, flüchtet es immer mehr in die Parallelwelt seiner ersten Jahre bei Nonna Assunta. So wie der Junge wächst und verkümmert, nimmt auch die Lebenskraft der Eltern ab. Und ihr Traum der Rückkehr nach Italien.
Juli Zeh:
Neujahr
Eigentlich ist alles in bester Ordnung. Der Mann hat zwei gesunde Kinder und einen passablen Job, eine kluge Frau, mit der er ein modernes Familienmodell lebt. Seine heftigen Panikattacken, die ihn nachts überfallen, unterdrückt und versteckt er tunlichst. Wie auch einige Wünsche, der er sonst noch hätte. Nun verbringt die Familie Ferien auf Lanzarote und er, Henning, will sich am Neujahrstag endlich einmal freistrampeln. Von allem. Mit dem Fahrrad keucht er den Berg hinauf und fährt direkt in ein Déjà-vu, in das Epizentrum aller seiner Ängste. Ab hier ist diese Novelle von Juli Zeh aus der Sicht des siebenjährigen Hennings geschrieben, ergreifend und explosiv.
Nora Krug:
Heimat
Dieses illustrierte, von Hand geschriebene, mit Fundstücken ergänzte Erinnerungsbuch ist ein Collage, wie sie noch nie gesehen wurde. Die in New York lebende Künstlerin Nora Krug spürt darin der Vergangenheit ihrer deutschen Familie nach. Sie sucht zu ergründen, wie und auf welcher Seite die Familie den zweiten Weltkrieg erlebt hat, und wie sie selber heute mit der Schuld, die ihr Volk auf sich geladen hat, umgehen kann. «Heimat» ist ein Kunstwerk, in dem Familiengeschichte auf Zeitgeschichte trifft. Eine Graphic Memoir, so wahr wie poetisch erzählt – so eindrücklich anzuschauen wie zu lesen.
Wolf Haas:
Junger Mann
Das Gute an Unfällen: Trostschokolade. Das Schlechte an zu viel Schokolade: Übergewicht. Das Gute am Verlieben: die Elsa. Das Problem am Verlieben: ihr Ehemann. Wolf Haas ist grosses Kino in kurzen Sätzen, witzig und temporeich in diesem seinem wunderbaren Sound, den nur der Österreicher kann. – Ausserdem: Alle seine Brenner-Krimis unbedingt lesen!
Pascale Kramer:
Autopsie des Vaters
Sie war ihrem Vater ausgeliefert, dem genialen und landesweit bekannten Intellektuellen. Dem Mann, der das Leben feiern konnte wie kein anderer, und sein Haus stets mit Freunden und Thesen bevölkerte. Sie schaffte es nie, ihm zu genügen, und findet erst Rettung, als sie sich in ein ihm fremdes Leben flüchtet – eines, das er nur mit kühler Verachtung straft. Am Tag vor seinem Freitod besucht sie ihn zu ersten mal seit Jahren und zeigt ihm ihren Sohn. Nicht ahnend, dass der mächtige Vater bereits ein gebrochener Mann ist. Und dass dieser mit einer Kehrtwende zum politisch Untragbaren einen hässlichen Flächenbrand entfacht hat. // Pascal Kramer wurde mit dem Schweizer Grand Prix Literatur 2017 ausgezeichnet.
Nino Haratischwili:
Das achte Leben (für Brilka)
Die Familiensaga der deutsch-georgischen Autorin nimmt uns mit auf eine Reise durch die wunderliche Geschichte Georgiens. Traumwandlerisch erzählt sie von Liebe und Hass, Anpassung und Widerstand, Bürgerkrieg und Sozialismus, Mord und Selbstmord über sechs Generationen hinweg. Sie erzählt die Saga jedoch nicht etwa uns, ihren dankbaren Lesenden, sondern richtet das Wort einzig an ihre Nichte Brilka. An Brilka, die Unbezähmbare … Vorangestellt sei hier die Entstehungsgeschichte Georgiens, zum Verständnis des kleinen Landes am Schwarzen Meer: «Einst erschuf Gott die Erde und verteilte das Land an die Völker. Alle drängten sich vor, wollten den schönsten Zipfel der Welt. Nur die Georgier kamen zu spät an, als alles bereits verteilt war. Sie kümmerten sich aber nicht weiter gross darum und sangen, tranken und tanzten lieber weiter. Und der liebe Gott, gütig wie eh und je, beeindruckt von der Lässigkeit und dem nicht vorhandenen Ehrgeiz des Volkes, schenkte ihm sein eigenes Urlaubsparadies, also Georgien.»
Juli Zeh:
Unterleuten
Schauplatz ist das fiktive Dorf Unterleuten in Brandenburg, nur eine Autostunde von Berlin entfernt. Eine Idylle inmitten eines Naturschutzgebietes. Angezogen von der Schönheit des Ortes treffen hier Aussteiger auf Alteingesessene, Lokalpolitiker auf Kriegsveteranen, Pferdefrauen auf Bodenspekulanten. Juli Zeh lässt uns alle Bewohner kennenlernen — jeder erzählt seine Sicht auf die Dinge. Im Nu sind wir in das Kabinett eingetaucht, in welchem sich die Geschichten sich zu einem Teppich verdichten, den man freiwillig nicht betreten möchte. — Unwiderstehlich!
Roland Schimmelpfennig:
An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts…
80 Kilometer vor Berlin kippt ein Tanklaster auf der Autobahn. Auf dem Fahrstreifen streunt ein Wolf. Zwei Kinder laufen von zu Hause weg. Ein polnischer Bauarbeiter sucht seine Freundin. Eine Frau verbrennt die Tagebücher ihrer Mutter. Ein pensionierter Jäger ohne Hund erleidet einen Herzinfarkt. Alle Figuren und Schicksale kreuzen sich mit dem Weg des Wolfes. Alle suchen und gehen verloren, leiden unter der Kälte ihrer Zeit.
Stephan Thome:
Gegenspiel
Was für ein Genuss! Was für ein unglaublicher Lesegenuss dieses Buch denjenigen bereitet, die exakt dieselbe Paargeschichte bereits vor drei Jahren als Roman «Fliehkräfte» gelesen haben. Die Lektüre ist, wie alte Bekannte wieder zu treffen. Damals wurde die Geschichte aus der Perspektive des Mannes Hartmut Hainbach erzählt, jetzt aus der Perspektive seiner Frau Maria, die in den Siebzigerjahren aus Portugal nach Berlin kam mit nichts als Lebenshunger im Gepäck.
Herta Müller:
Mein Vaterland war ein Apfelkern
Als deutschsprachige Rumänin flüchtet sich Herta Müller dann in Worte, wenn das Leben nicht mehr auszuhalten ist. «Ständig schreib ich dir Karten. Die Karten vollgeschrieben. Und ich leer.» Worte als Lebenselixier, die zu unendlich poetischen Sätzen zusammengefügt Terror und Schrecken beschreiben, den sie als Dissidentin in der Zeit der Securitate erlebt. 2009 erhält Herta Müller den Nobelpreis für Literatur, «Mein Vaterland war ein Apfelkern» ist ihre Biografie.
Joël Dicker:
Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Grosses Kino aus der Westschweiz! Halb Krimi, halb Gesellschaftsroman. Der Ich-Erzähler – ein New Yorker Autor, der dringend eine neue Geschichte braucht – rollt einen Mordfall von vor 30 Jahren auf. Er recherchiert die Liebesgeschichte zwischen der minderjährigen Nola Kellergan und dem Literaten Harry Quebert, indem in den mittleren Westen fährt und mit seinem literarischen Idol endlose Gespräche führt. Plötzlich die Kehrtwende: Im Garten des alten Schriftstellers wird die Leiche des Mädchens ausgegraben. Nun sieht sich der Ich-Erzähler gezwungen, Harry Quebert, an dessen Unschuld er felsenfest glaubt, zu retten. Ein Buch im Buch mit verrückten Wendungen – ein Sog, dem man sich nicht entziehen kann.
Jonas Lüscher:
Frühling der Barbaren
Nein, er hat das Rennen um den Schweizer Buchpreis 2013 nicht gemacht – dennoch ist Lüscher mit diesem Debüt Gewinner dieses Jahres! In der Novelle erzählt Firmenerbe Preising während endloser Klinikspaziergängen einem unbekannten Ich-Zuhörer wortreich und umständlich, wie er, unbescholten und unbeabsichtigt, den Niedergang der Britischen Börse inmitten eines Luxusresorts in Tunesien erlebt. Wie er dort einer glamourösen Hochzeitsfeier Londoner Banker beiwohnt, als sich nach der Verkündigung des Börsencrash Irrsinn und Chaos breitmachen und er Zeuge schierer Barbarei wird. Hinreissend, witzig und sehr bös.
Stephan Thome:
Fliehkräfte
Hier wird die Geschichte des selbstgefällen Professors Hartmut Hainbach erzählt, der im Begriff ist, alles zu verlieren. Hainbach begibt sich roadmoviemässig auf Spurensuche seiner Lebensstationen, um dort anzuknüpfen, wo er irgendwie und irgendwann den Faden verloren hat. Fragmentarisch aufgebaut, meisterhaft erzählt, konstruiertes Mittelmass als Lebenskonzept.
Urs Schaub:
Der Salamander
Endlich wieder einmal ein Schweizer Krimi, der Glauser und Dürrenmatt seine Ehre erweist. Wo nichts überstürzt wird und bei jeder Gelegenheit ausgiebig gespiesen. Im Zentrum stehen Simone Tanner und sein Freund Serge Michel, Polizist der Abteilung «Leib und Leben» aus dem Drei-Seen-Land. Die beiden spüren einem längst verjährten Mordfall nach und wundern sich über das Verhalten eines jungen Mannes.
Thomas Meyer:
Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse
Ein Muss für alle, die in den Zürcher Stadtkreisen 2, 3 oder 4 wohnen. Dem jungen orthodoxen Studenten Mordechai Wolkenbruch, kurz: Motti, passiert, was nicht passieren darf – er verliebt sich in eine Schickse. Hinreissend komisch und hinreissend gut, in einer Mischung aus Hochdeutsch und Jiddisch geschrieben, lernen wir durch Mottis Augen das nichtjüdische Zürich mit all seinen seltsamen Ritualen kennen!
Julia Franck:
Rücken an Rücken
Dass Julia Franck sprachvirtuos ist, wissen wir spätestens seit ihrem Roman «Die Mittagsfrau». Mit «Rücken an Rücken» steigert sich Julia Franck nun nochmals. Sie erzählt die Geschichte der Geschwister Ella und Thomas, die zusammen mit ihrer Mutter, einer Künstlerin und radikalen Kommunistin, in den 60er Jahren der DDR in einem Klima von Kälte und Misstrauen aufwachsen. Die beiden Kinder sind alles füreinander, stets Rücken an Rücken, Hoffnung und Familie, Liebe und Flucht – und brechen an der Perspektivlosigkeit ihrer Zeit.
Stephan Pörtner:
Stirb, schöner Engel
Der eigenbrötlerische Zürcher Ermittler Jakob Köbi Robert jagt in seinem dritten Krimi einer längst verjährten Geschichte nach. Denn 1973, vor gut vierzig Jahren, wird am ersten autofreien Sonntag in der Geschichte der Schweiz die Leiche einer jungen Frau in der Nähe eines Bündner Nobelkurortes gefunden. Verdächtigt wird der Internatsschüler aus dem Unterland, dessen Herkunft ihn aber unantastbar macht. – Super Krimi!
Arno Geiger:
Der alte König in seinem Exil
Das Vaterbuch von Arno Geiger, das Vaters Demenz-Erkrankung zum Thema hat, berührt durch seine Liebenswürdigkeit und seine Sorgfalt, und besticht durch Humor und Sprachkraft. Nach der Lektüre ist nicht vor der Lektüre – dieses Buch verändert das Leben. «Der alte König in seinem Exil» ist ein Muss für alle, deren Eltern alt werden.
Doris Knecht:
Gruber geht
Gruber ist erfolgreich, arrogant, cool und neurotisch. Er rast in einem Irrsinnstempo durchs Leben. Streift Bars, Betten und Flughäfen in Zürich, Berlin und Wien. Schnödet über alles und jeden bis ihn das Schicksal – zack! – brutal in die Eier tritt und ihn am Ende dieses Stückes als nicht ganz, doch zumindest als minimal geläuterten Menschen auferstehen lässt.
Stephan Thome:
Grenzgang
Schauplatz deutsche Provinz. Alle sieben Jahre findet in den Stadtmauern ein feuchtfröhliches Volksfest statt. Die Jugendfreunde Thomas und Kerstin, zwei vom Leben enttäuschte Mittvierziger, prallen aufeinander und beginnen gemeinsam die Suche nach dem Glück. Die Begegnung ist zart, ein Wandel scheint möglich. Was gut beginnt, wird nach einem Siebenjahressprung in die Zukunft schonungslos demontiert, wenn das nächste Volksfest vor der Türe steht.
Ferdinand von Schirach:
Schuld
Irritierend der Berliner Strafverteidiger Ferdinand von Schirach. Ist das Erzählte Fiktion oder Wahrheit? Mit Hochgenuss und Schauder lesen sich die kleinen und die schlimmen Verbrechen, die Abscheulichkeiten und der Irrsinn. Wer nach «Schuld» noch mehr Stoff braucht, für den steht der erste Geschichtenband «Verbrechen» und der 2011 erschienene, grossartige «Fall Collani» bereit.
Bernhard Schlink:
Sommerlügen
Präzis und gleichwohl flüchtig skizziert Schlink ganze Leben auf wenigen Seiten. Seine Momentaufnahmen sind vordergründig leicht, fast freundlich, bei näherem Hinschauen tun sich jedoch tiefe Abgründe auf. Mit herzlicher Empfehlung für Liebhaber der gepflegten Sprache.
Pedro Lenz:
Dr Golie bin ig
Der leiernde und ausufernde Mundart-Monolog vom Goalie, der gar kein Goalie ist, sondern ein Ex-Junkie, und der nach einem Jahr Gefängnis zurück in seine Kleinstadt kommt und dort nochmals ganz von vorne beginnt. Das Schurkenstück wurde für den Schweizer Literaturpreis 2010 nominiert und feierte 2013 als Kinofilm grossen Erfolg. Als Tipp: Pedro Lenz live erleben!
Alain Claude Sulzer:
Zur falschen Zeit
In «Ein perfekter Kellner» erzählt Claude Alain Sulzer von einer Liebe zwischen zwei Männern, die vierzig Sommer zurückliegt. Dass Sulzer mit seinem neuen Roman «Zur falschen Zeit» ein breites Publikum erreicht, ist mehr als erfreulich. Zur Geschichte: Wiederum eine grosse Liebe, die im Drama endet. Unbedingt lesen!
Frank Tallis:
Wiener Blut, Die Liebermann-Papiere, Kopflos
Krimi-Trilogie, die 1910 in Wien spielt. Es ermitteln ein Hauptkommissar und sein Freund, der junge jüdische Psychoanalytiker Liebermann, ein Schüler Freuds. Leicht trivial die Geschichten, doch schwer liebenswert.