Lesen Sie auch? Die hier vorgestellten Bücher empfehle ich herzlichst zur Lektüre — weil sie Seite für Seite jeden gedruckten Buchstaben wert sind. Fehlt Ihr Lieblingstitel? Dann schreiben Sie mir und ich lese ihn.
Elliot Page:
Pageboy
Ellen Page wird Elliot Page — von she zu he. That’s it. Das ist die Geschichte. Und so einfach könnte sie sein, wenn Page nicht zwanzig Jahre lang Ausgrenzung, endlosem Leid und Selbstzweifeln ausgesetzt gewesen wäre. In «Pageboy» erzählt Elliot seine Wahrheit: vom Aufwachsen in der kanadischen Hafenstadt Halifax, vom Erwachsenwerden im von traditionellen Geschlechterrollen besessenen Hollywood. Von Sex, Liebe, Trauma und schwindelerregenden Erfolgen wie der Oscar-Nominierung für «Juno» mit Zwanzig. «Pageboy» ist Geschichte eines Lebens, das allem und jedem mit Trotz, Mut und Freude entgegentritt.
Toni Morrison:
Rezitativ
Die Nobelpreisträgerin konstruiert ein Vexierbild: Vom ersten Satz an ist klar, dass eine der beiden Protagonistinnen schwarz ist und die andere weiss — doch welche ist welche? Twyla und Roberta begegnen sich als Achtjährige im Kinderheim. Als Outcasts sind sie im Nu unzertrennlich, stellen einander keine Fragen, wohl wissend, dass Fragen nichts Gutes mit sich bringen. Sie verlieren sich aus den Augen und treffen erst als Erwachsene in drei kurzen Episoden aufeinander. Die Begegnungen sind brüsk, denn die ihre jeweiligen Lebensrealitäten könnten nicht unterschiedlicher sein. Und es entzündet sich im Nu ein Konflikt rund um die Erinnerung an damals, als im Kinderheim eine schwarze — war sie wirklich schwarz? — Küchenhilfe gequält wurde. «Die Wiederentdeckung von Toni Morrisons einziger Erzählung, die 1983 erschien, ist eine literarische Sensation und enthält die Quintessenz ihres Schaffens.»
Bernardine Evaristo:
Mr. Loverman
Er will den Rest seines Lebens mit Morris verbringen, seinem Geliebten seit Jugendtagen. Während der schwule Barrington Walker seinen Plan schärft, im Alter seine «Barrysexualität» offen auszuleben, bringt sich das Personal um ihn herum in Stellung: die tief religiöse und von ihrer Ehe bitter enttäuschte Carmel, seine erwachsenen Töchter sowie der Geliebte Morris, der nicht mehr darauf hoffen mag, dass Barry zu ihrer Verbindung steht. Die beiden Männer waren jung und jeweils frisch verheiratet aus der Karibik nach London emigriert und hatten hier ihr ganzes Leben verbracht. Derweil Barry noch mit sich ringt, bricht sein Outing unkontrolliert aus … Bernardine Evaristo jongliert witzig und rasant mit den beiden Erzählstimmen von Ehemann und Ehefrau und fertigt so ein Panoptikum durch Class und Race der Caribbean Community in England.
Jennifer Egan:
Candy Haus
Welcome to Big Data. Eine App erlaubt es Menschen neuerdings, ihr Bewusstsein und ihre Erinnerungen in eine Cloud hochzuladen. Hinter diese Erfindung steht Bix Bouton, Gründer einer Tech-Start-up. Die Erinnerungen eines jeden können nun nicht nur individuell hochgeladen werden, sie können auch für das Kollektiv freigeschaltet sein. Wer also zum Beispiel 1972 im titelgebenden Candy House inmitten des Dschungels mit dabei war, kann dank der App nachvollzogen werden. Wer damals was sagte, wer welches Gras rauchte, wer wen liebte. Das Buch der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Jennifer Egan hoppt zwischen New York, Chicago, Los Angeles — zwischen Wüste und Regenwald und das über die weite Zeitspanne von den 1960er-Jahren bis ins 2023. Überdreht, witzig, raffiniert. Ein rundum schöner Pageturner!
Katie Kitamura:
Intimitäten
Frisch aus New York nach Den Haag gezogen, wird die Dolmetscherin mit der prestigeträchtigen Aufgabe betreut, den Prozesse gegen einen der schlimmsten Kriegsverbrecher simultan zu übersetzen. Stets mit der Stimme dieses Mannes im Ohr, derer sie bald hörig ist, versucht sie in der neuen Stadt Fuss zu fassen. Sie richtet sich ein, lernt Menschen kennen, verliebt sich. Katie Kitamura verbindet in diesem Roman Privates mit Gesellschaftspolitischem — ein intellektuelles Vergnügen mit hypnotischer Sogwirkung.
Gary Shteyngart:
Landpartie
Was Literatur so alles kann, wissen wir ja alle. Wie herrlich Literatur uns jedoch vom Vergessen abhalten kann, erfahren wir in der «Landpartie» des grossen Romanciers Gary Shteyngart: Während in New York das Coronavirus wütet und tötet, lädt der russischstämmige Schriftsteller Sasha Senderovsky eine illustre Gruppe alter Freunde auf seinen Landsitz ein. Maskentragend und in vorgeschriebener Distanz wird hier das Leben hysterisch gefeiert. Acht Freunde, vier Romanzen und ein Tod sind die Bilanz. Jonathan Safran Foer, der andere grosse Romancier, über seinen Kollegen: «Gary Shteyngarts Romane sind amerikanisches Kulturgut. Er hat schon immer mit Humor und Herz geschrieben, aber nie so sehr wie hier. Wenn Sie dieses Buch in der Öffentlichkeit lesen, seien Sie bloss vorsichtig: Es kann sein, dass sie laut loslachen müssen — oder dass Ihnen die Tränen kommen.»
Damon Galgut:
Das Versprechen
Zuerst stirbt Ma, dann stirbt Pa, später stirbt Anton, weiter Astrid und als nur noch Amor übrig ist, beschliesst sie, das Versprechen ihrer Familie an die schwarze Frau, die ihr ganzes Leben für sie gearbeitet hat, endlich einzulösen. «Das Versprechen» — ausgezeichnet mit dem Man Booker Prize 2021 — erzählt chronologisch vom Zerfall einer weissen südafrikanischen Familie, die auf einer Farm ausserhalb Pretorias lebt. Dreissig Jahre, von der Apartheid bis hin zur Demokratie, in denen sich wenig verändert. Brillante Sprache, unfassbar dicht!
Elizabeth Strout:
Oh Wiliam!
In Elizabeth Strouts neuen Roman «Oh William» begegnen wir ihrer Heldin aus früheren Romanen: Lucy Barton. Sie erzählt von der komplexen und innigen Beziehung zu ihrem ersten Mann William: von den Anfängen, als sie noch studierten, von ihren beiden Töchtern, vom Leben in New York, den jeweiligen Herkünften — und auch vom Ende ihrer Ehe. Leichtfüssig und lebensklug die Erinnerungssequenzen, die wie Perlen auf eine Schnur gezogen werden und mit kleinen Knöpfen fixiert. Kein Wunder, sucht William noch heute den Kontakt zu seiner ersten Frau. Auch wir möchten ewig mit Dabeisein — und Lucy Barton zur Freundin haben!
Jonathan Franzen :
Crossroads
«Crossroads» ist ein atemberaubend gut geschriebener Familienroman über Moral, Religion und Vergebung. Angelegt in den Siebzigerjahren, kämpfen alle Mitglieder der Pfarrersfamilie Hildebrandt um Selbstverwirklichung — und das mit Würde: Vater Russ, knietief im Schlamm seiner Midlifecrisis steckend, begehrt seine dicke Marion nicht mehr, von deren Vorleben er nichts weiss. Die unbestritten perfekte Tochter Becky enttäuscht Bruder Clem, der sich freiwillig in die letzten Kriegstage nach Vietnam begeben will. Und dann sind da noch Perry, dessen wirres Innenleben sich im Laufe der 832 Seiten in eine ausgewachsene Psychose entwickelt, sowie der gesichtslose kleine Judson. Ob der Keim alles Unheils in Vaters rigider, mormonischer Kindheit liegt oder in Mutters schizophrenen Genen: Jonathan Franzen gelingt ein Panoptikum menschlicher Auswüchse, das zu lesen süchtig macht. Zum grossen Glück darf sich die geneigte Leserschaft auf die nächsten beiden Folgen dieser Trilogie freuen.
Douglas Stuart:
Shuggie Bain
«Shuggie Bain» ist hinreissend — in überwältigender Sprache erzählt, tieftraurig und zugleich voller Zärtlichkeit. Die Geschichte spielt im Glasgow der 80er-Jahre und handelt einem Jungen, der seine Mutter abgöttisch liebt und sie vor dem Alkoholismus zu retten versucht. Derweil sie immer tiefer in den Sumpf ihrer Sucht gezogen wird, klammert sich Shuggie stoisch an Mutters Schönheit, an ihre überlegene Sprache und ihren Willen, niemals klein beizugeben. Shuggie kommen erst sein Vater abhanden, dann die Schwester, der grosse Bruder und selbst die Geliebten der Mutter nehmen Reissaus. So wächst Shuggie als schwuler Knabe in einer Tristesse auf, die kaum zu überbieten ist. Dieser unvergessliche Roman über das Elend von Armut und Sucht hat den Booker Preis 2020 gewonnen.
Elizabeth Strout:
Die langen Abende
Olive Kitteridge, pensionierte Lehrerin aus Crosby, ist auch in diesem Band so kantig wie eh und je. Wir als ihre Fangemeinde kennen sie bereits seit Jahren. Wir wissen um die Entfremdung zu ihrem Sohn, um das Abhandenkommens ihres Ehemannes und um die aufkeimende Einsamkeit. Dass Olive Kitteridge nun noch jemanden kennenlernt, ist sehr überraschend. Der Mann ist Jack. Und wir staunen. «Niemand streifte ihn auch nur mit einem Blick, und so wenig neu die Erkenntnis an sich war, traf sie ihn nun doch auf neue Weise. Er war nur ein alter Mann mit einem Hängebauch, niemand mehr, den man wahrnahm. Fast hatte das etwas Befreiendes.» Elizabeth Strout zeichnet ihre Protagonisten knapp und sorgfältig und erreicht dabei unerhörten Tiefgang.
Bernardine Evaristo:
Mädchen, Frau etc.
Bernardine Evaristo bombardiert ihre Leserschaft in diesem Buch mit zwölf Lebensgeschichten von schwarzen, mittelschwarzen, halbschwarzen bis praktisch weissen Britinnen. Sie sind Schwestern, Sisters, Sistas, Frauen, Women, Wimmin und haben Brüder, Brothers, Bruvs und LGBTQI*-Mitglieder der ganzen Menschenfamilie an ihrer Seite. Die Biografien, atemlos und ohne Punkt und Komma erzählt, sind dicht ineinander verflochten — ein Panoptikum der letzten hundert Jahre Migrationsgeschichte Englands. Dass das Buch 2019 den Booker Prize gewonnen hat, erstaunt null. Man möchte einfach nur mehr davon. Mehr Buch, mehr von dieser Sprache, diesem Tempo, dieser humorvollen und zärtlichen Sicht auf die oftmals harten Schicksale.
Tayari Jones:
Das zweitbeste Leben
«Ich wusste von Chaurisse, sie hingegen nicht von mir. Meine Mutter wusste von Laverne, aber Laverne glaubte, ein ganz normales Leben zu führen. Diese grundlegende Tatsache war uns immer präsent.» So die inoffizielle Tochter über ihre Schwester, die offizielle Tochter des Bigamisten James Witherspoon. Dieser führ zwei Familien parallel und ringt mit viel Würde um ein anständiges Leben und gerechte Liebe für seine beiden Frauen und Kinder. Ein wunderbares Gesellschaftsporträt des schwarzen Mittelstandes der 1950er Jahren in den USA.
Charlotte Wood:
Ein Wochenende
Vier Freundinnen sind sie gewesen, ein Leben lang. Jetzt, wo die eine gestorben ist und die Beziehungskiste nurmehr auf drei Beinen steht, räumen Jude, Wendy und Adele das Strandhaus der Verstorbenen. Einem Kammerstück gleich erleben wir die Frauen (eine mit dementem Hund) ein Wochenende lang dabei, wie sie miteinander ringen, Fassung verlieren und Würde behalten. Präzis beobachtet, mit wunderbarer Introspektion angereichert und in leichter Sprache liest sich dieser Text in einem Wochenende.
Gabriel Tallent:
Mein Ein und Alles
Weit über die Schmerzensgrenze hinaus geht Gabriel Tallent in seiner Geschichte von Turtel Alveston, dem Mädchen, das in der Wildnis von Kalifornien alleine mit seinem Vater aufwächst. Martin lernt seine Tochter nicht nur Furchtlosigkeit und Unabhängigkeit, er lernt sie auch jede Pflanze kennen und mit jedem Kaliber schiessen. Eingesperrt in diese Weltordnung, zerlegt, putzt und ölt Turtle jeden Abend ihre Sig Sauer und wartet auf den nächtlichen Missbrauch, den Beweis der grenzenlosen Vaterliebe. Diese toxische Vater-Tochter-Beziehung ist kaum auszuhalten. Fassungs- und atemlos liest man sich durch den Coming-of-Age-Roman und betet, dass Turtle überlebt.
William Melvin Kelley:
Ein anderer Takt
«A Different Drummer» erscheint 1962 und der Autor wird von der New York Times gleich mit Literaturgrössen wie William Faulkner und James Baldwin verglichen. Seine Geschichte spielt in den Südstaaten Amerikas, wo der junge Schwarze Tucker Caliban seine erst kürzlich erworbenen Felder stoisch zerstört, sein Pferd erschiesst, seinen Baum fällt und das Haus abfackelt. Dann gibt er seiner schwangeren Frau das Zeichen zum Aufbruch: «Wir sind soweit.» Und die Familie zieht, ohne ein Wort an die perplexen Zuschauer zu richten, von dannen. Kurz darauf folgt ihm eine andere Familie, eine weitere, eine nächste. Bis die ganze Gemeinde von Farbigen ihr Dorf verlässt und in einem Massenexodus gegen Norden zieht. Endlich sind die Weissen unter sich. Jetzt können sie sehen, wie sie klarkommen.
Ta-Nehisi Coates:
Der Wassertänzer
Hiram Walker ist der Sohn eines Plantagenbesitzers in Virginia. Er hat hellere Haut als die meisten anderen Sklaven und gibt sich der Illusion hin, auch einen anderen Wert zu haben. Sein Schöpfer Ta-Nehisi Coates hilft und ist gnädig mit seinem Protagonisten — er verleiht ihm Superkräfte: Wenn Hiram in der Nähe von Wasser ist, kann er zu seinen «tiefsitzenden Erinnerungen» vordringen und sich und andere versetzen – über Flüsse, Meere und Ozeane hinweg. Eine seltene Gabe, von seinen Ahnen ererbt. Somit wird Hiram zur Heilsfigur, der «Verpflichtete» in den Norden bringt, wo die Schwarzen bereits als freie Bürger leben. Ein zarter, phantastischer und hinreissender Roman.
Delia Owens:
Der Gesang der Flusskrebse
Die Mutter flieht vor dem gewalttätigen Ehemann, die Geschwister verschwinden nach und nach, der Vater irgendwann ebenso. So wächst Kya Clark in kompletter Isolation auf. Alleine in ihrer Hütte im Sumpfland von North Carolina, argwöhnisch beobachtet und gemieden, Marschmädchen genannt. Ihre Lebensrealität sind die Vögel, die Gezeiten des Meeres, die Muscheln, Federn, Salzbänke. Ewig hält diese Isolation nicht an und Kya kommt mit dem Leben ausserhalb ihrer Welt in Berührung — was in einem Mordprozess endet. Ein hochemotionales und atmosphärisches Märchen, das seit elf Monaten auf der Bestsellerliste der «New York Times» steht. Kein Wunder. Auch für mich gilt: Das schönste Buch 2019!
John Jay Osborn:
Liebe ist die beste Therapie
Ein Buch wie ein Kammerspiel, jedes Kapitel im selben Setting: Ein Raum, vier Stühle, ein Mann, eine Frau und eine Paartherapeutin. Und der vierte Stuhl? Steht für die Ehe bereit. In der ersten Stunde fragt der Mann, wie hoch die Chancen stehen, diese Liebe noch zu retten. 1:1’000, so die vernichtende Einschätzung der Expertin. Ein herrlich kurzweiliges und mitunter verblüffendes Buch — besonders wenn die innere Stimme der Therapeutin alle Dialoge kommentiert …
Kent Haruf:
Abendrot
Diogenes legt das kleine, aber feine Werk des 2014 verstorbenen amerikanischen Erzählers Kent Haruf erstmals in Deutsch auf. Seine sechs Romane spielen alle in der fiktiven Kleinstadt Holt im Herzen Colorados. Lakonisch und beinahe distanziert erzählt, berühren die Geschichten über Land und Leute zutiefst. Einige Harufs Figuren werden heute wohl als «White Crash» bezeichnet werden. Diese Trailerbewohner um ihre Würde kämpfen zu sehen, schmerzt beinahe körperlich.
Gary Shteyngard:
Lake Success
Zum Schreien komisch ist das neue Buch von Kultautor Shteyngart, in dem er seinen Hedgefonds-Millionär Barry Cohen im Greyhound-Bus auf Selbstfindung durch die USA jagt. Barry ist ein ausgekochtes Arschloch, das sich nur um die eigene Achse dreht und in Selbstmitleid schwimmt. Er crawlt durch Dreck und Schlamm, derweil seine Frau den gemeinsamen autistischen Sohn zu einem wunderbaren Menschen erzieht. Die Läuterung erfolgt während der Bar Mitzwa ebendiesens — vorgetragen mittels einer Computerstimme, die direkt ins Vaterherz zielt.
Julian Barnes:
Die einzige Geschichte
Paul verliebt sich mit neunzehn in die fast dreissig Jahre ältere Susan. Und erhält: lebenslänglich. In drei Erzählperspektiven, den drei Kapiteln des Buches, erinnert er sich an diese seine Liebe. Und resümiert: «Würden Sie lieber mehr lieben und dafür mehr leiden, oder weniger lieben und weniger leiden? Das ist, glaube ich, am Ende die einzig wahre Frage.» Ein grosser Kniefall Richtung Julian Barnes — und ein grosses Dankeschön für dieses wunderbare Werk.
Jeffery Eugenides:
Das grosse Experiment
Alle zehn Kurzgeschichten des grossen amerikanischen Romanciers Jeffery Eugenides handeln von Menschen, die in Schwierigkeiten stecken. Und zwar knietief. Jede Geschichte fühlt sich an wie ein grosser Roman. Man möchte unbedingt mehr erfahren über die Figuren, die einem im Nu ans Herz wachsen. So zum Beispiel über den idealistischen Lektor, der seine Familie nur knapp über Wasser halten kann und sich zu einer kriminellen Handlung verführen lässt. Daraufhin in den Genuss des besseren Lebens kommt, sich langsam entspannt, Frau und Kinder glücklich sieht. Bis zu diesem einen Telefonat… Eugenides’ Cliffhanger sind zum Teil so brutal, dass man ihn an seinen Schreibtisch festbinden möchte, bis er die verdammte Geschichte in Gottes Namen zu Ende erzählt!
Nora Krug:
Heimat
Dieses illustrierte, von Hand geschriebene, mit Fundstücken ergänzte Erinnerungsbuch ist ein Collage, wie sie noch nie gesehen wurde. Die in New York lebende Künstlerin Nora Krug spürt darin der Vergangenheit ihrer deutschen Familie nach. Sie sucht zu ergründen, wie und auf welcher Seite die Familie den zweiten Weltkrieg erlebt hat, und wie sie selber heute mit der Schuld, die ihr Volk auf sich geladen hat, umgehen kann. «Heimat» ist ein Kunstwerk, in dem Familiengeschichte auf Zeitgeschichte trifft. Eine Graphic Memoir, so wahr wie poetisch erzählt – so eindrücklich anzuschauen wie zu lesen.
Winnie M Li:
NEIN
NEIN ist eine Wucht – ohne Wenn und Aber. Ein hoch feministisches Buch und eine Sozialstudie zugleich. Die taiwanesisch-amerikanische Autorin wird 2008 auf einer Wanderung in der Nähe von Belfast vergewaltigt und erzählt nun davon. Von der Brutalität, die ihr als Zufallsopfer eines jungen Mannes widerfährt, der als verwahrloster «Irish Traveller» wiederum selber als Opfer bezeichnet werden könnte. Winnie M Li schneidet die Biografien von Opfer und Täter, die nicht unterschiedlicher sein könnten, gegeneinander bis zum Aufeinandertreffen. Und darüber hinaus. Sie versetzt sich mit einer unfassbaren Fairness in das Denken, Fühlen und Handeln dieses Mannes ein, der ihr Leben nachhaltig zerstört. Wie sie ihren Widersacher schildert und sich dessen Not annimmt, ist schlicht ein Meisterwerk.
Brit Bennett:
Die Mütter
Ein Mädchen wird schwanger vom Sohn des Pastors — und entschliesst sich zu einer Abtreibung. Mit diesem Nicht-Mutter-Werden-Wollen beginnt der Roman «Die Mütter», in dem jede der Hauptfiguren schwarz ist. Alle «Mütter» der kleinen kalifornischen Gemeinde, so werden die alten Frauen hier genannt, stürzen sich gierig und gnadenlos auf den Skandal derweil das Mädchen um seine Würde kämpft. Ziemlich schutzlos kämpft sie, denn ihre eigene Mutter hat sich vor Jahren das Leben genommen. Die Autorin Brit Bennet gilt mit ihren 26 Jahren als neues Wunderkinder der amerikanischen Literatur und wird bereits mit Toni Morrison verglichen.
Adam Haslett:
Stellt euch vor, ich bin fort
Fünf Familienmitglieder, fünf Erzählstimmen, zwei Generationen und sehr viel Leid, so kann das überwältigende und herzzerreissende Epos von Adam Haslett umrissen werden. Autobiografisch an diesem für den Pulitzer Preis nominierten Roman ist nicht nur der Freitod des eigenen Vaters, vielmehr auch das Wissen um das Zusammenleben mit einem manisch-depressiven Menschen. Haslett erzählt präzis und mit einer Leichtigkeit — und verwebt den Sound aller Erzählstimmen zu einer dichten Familiengeschichte. Stellt euch vor, ich bin fort — ein Roman, der den Blick auf psychische Krankheit verändern kann.
Imbolo Mbue:
Das geträumte Land
Jende Jonga chauffiert die Limousine seines Chefs durch das Finance District von Manhattan, stets dessen Telefonate im Ohr. Er bringt den Lehman-Brothers-Banker von Meeting zu Meeting und setzt ihn stundenweise im Hotel Chelsea ab. Er bringt den einen Banker-Sohn zum Klavierunterricht und wischt ihm auch einmal die Tränen ab, derweil er den anderen über eine bessere Welt in Indien philosophieren lässt. Bevor die Gattin ins Auto steigt, vergewissert sich Jende zweifach, dass kein Staubkorn mehr die Rückbank verschmutzt, und wenn er nachts in der Subway Richtung Bronx zu Frau und Kind friert, fragt er sich, wie lange sich Amerika noch träumen lässt. Der jähe Zusammenbruch von Lehman Brothers hat die unmissverständliche Antwort drauf.
Charles Jackson:
Die Niederlage
In der Erzähltradition Richard Yates’ oder Raymond Carvers gehalten, erscheint das Buch 1947 unter dem Namen «The Fall of Valor». Seine Protagonisten sind ein Ehepaar, das sich ein paar Tage am Meer ohne Kinder gönnt, und ein junger Offizier, der am selben Strand auf Fronturlaub ist. Die beiden Männer freunden sich an. Der Ältere ist fasziniert von der Leichtigkeit des jüngeren, nimmt dessen Charme und seine fröhliche Herzlichkeit persönlich. Und steigert sich in eine Fantasie, die ein jähres Ende nimmt.
Jonathan Safran Foer:
Hier bin ich
Alle quasseln, quatschen und diskutieren andauernd, kommentieren sich und alles Gesagte in Echtzeit und schwimmen in einem Wörterstrom, der nie zu versiegen scheint. Jacob und Julia, drei Söhne, ein Vater, eine Mutter und der Cousin, der aus Israel angereist ist. Jacob liebt sie alle und sucht dennoch aus seinem prall gefüllten Leben zu fliehen. «Hier bin ich» erzählt die Geschichte einer Trennung so dialogstark, dass man, wie Jacob, endlich mal nur noch Ruhe haben will. Neben den grossen Fragen des Lebens kommt in diesem phänomenalen Roman auch das Profane zur Sprache: Karriere, Konsum, Sex-Chats und ein inkontinenter Hund.
Kate Tempest:
Worauf du dich verlassen kannst
Punk-Rock pur ist er, der Debutroman der Spoken-Word-Künstlerin Kate Tempest. Fulminant, schnell, sprachlich unschlagbar. Drei Protagonisten, viel Personal rundum. Tänzerin Becky, die sich prostituiert. Koks-Dealerin Harry, die sie liebt. Freund Pete, der sie auch liebt. Jede Menge Alkohol, viel Gentrifizierung, ein Verbrechen, eine Flucht.
Deborah Feldman:
Unorthodox
Deborah Feldman wächst in einer ultraorthodoxen Gemeinde in Brooklyn bei ihren Grosseltern auf; nicht sonderlich lieblos, vielmehr einfach im normalen Leben religiöser Extremisten. Sie erzählt präzise und beinahe unbeteiligt von ihrer Kindheit, von der Flucht in die verbotene Welt der Bücher (wo sie sich vor allem in Jane Austens Frauenfiguren des 19. Jahrhunderts wiederfindet), der arrangierten Heirat mit einem durchaus guten Mann. Sie erzählt von der Erkenntnis, dass sie nicht einmal als erwachsene Frau ein individuelles Leben führen kann, sondern stets der obsessiven Überwachung der Gemeinschaft unterliegt. Und davon, wie sie merkt, dass sie nur überleben wird, wenn sie sich befreit. — Unorthodox kommt gleich nach seinem Erscheinen auf die Bestsellerliste der New York Times und ist sofort ausverkauft.
Gary Shteyngart:
Kleiner Versager
Gibt es eine komisch-tiefgründigere Erzählweise als diejenige Shteyngart? Der Jude, Russe und Amerikaner hat seine Memoiren geschrieben — und das mit vierzig (was für ihn wie 75 oder 80 ist). Konsequent aus der Perspektive seines jeweiligen Alters geschrieben, schildert der kleinwüchsige und asthmatische Gary den Lauf der Dinge. 1979 wandert die Familie aus der Sowjetunion nach Amerika aus, Vater, Mutter und Igor. Wohin es geht? «Zum Feind.» Aus Igor wird Gary, aus Leningrad Brooklyn. Nur eines bleibt: dass er den Erwartungen seiner Eltern nie genügen wird. Berührend und grossartig!
Charles Jackson:
Das verlorene Wochenende
Einmal mehr hat Doerlemann ein Meisterwerk ausgegraben und präsentiert dieses nun neu übersetzt und wunderbar in Leine gebunden. Manhattan 1936, East Side. Don Birnam trink. Und trinkt. Und hat schon lange jenen Punkt erreicht, an dem «ein Drink zu viel ist und hundert nicht genügen». Der Schriftsteller nimmt uns auf die irrwitzige Introspektion eines Alkoholikers mit, der zwischen Grössenwahn, Selbstverachtung, Verzweiflung und glasklarer Erkenntnis ein Wochenende durchlebt. 1944 geschrieben, 1945 verfilmt und mit vier Oscars ausgezeichnet.
Jhumpa Lahiri:
Das Tiefland
«Eine beeindruckende Balade von Liebe, Verlust und Tod», schreibt die New York Times. «Eine so suggestive, luzide Prosa, dass man beinahe vergisst, dass man liest», so die Newsweek über den neuen Roman der indisch-stämmigen Pulitzerpreisträgerin Jhumpha Lahiri. Sie führt anhand eines ungleichen Brüderpaars vor Augen, wie untrennbar das Politische vom Privaten wird, wenn sich innerhalb derselben Familie der eine radikalisiert, derweil sich der andere entzieht. Nach der Erschiessung des Aktivisten übernimmt der längst in die USA emigrierte Bruder die Verantwortung für dessen Frau und Tochter und belügt sich dabei schwer.
Chimamanda Ngozi Adiche:
Americanah
Die Protagonistin Ifemelu erfährt und erlebt erst in ihrem Studium in den USA, was es bedeutet, schwarz zu sein. Aus Nigeria kommend, ist sie zwar mit zahlreichen Arten gesellschaftlicher Missstände vertraut, doch nicht mit dem absolutesten aller Diskriminierungsmerkmale: der Hautfarbe. Sie beginnt, radikal und erfolgreich über den Unterschied von Afrikanern und Afroamerikanern zu bloggen. Darüber, was es bedeutet, täglich krauses Haar bändigen zu müssen, um eine Arbeit zu finden, und über die bigotte Politik der Weissen. Daneben sehnt sie sich nach ihrer Jugendliebe Obinze, der sich nach traumatisierenden Jahren in England zuhause korrupten Geschäften hingibt. – Americanah ist ein Roman, nach dessen Lektüre die Sicht auf die Welt eine andere ist.
John Williams:
Stoner
Geschrieben 1965, wurde dieses überragende Epos erst viel später Publikumserfolg. Es ist die unspektakuläre Geschichte eines amerikanischen Farmersohnes, der entgegen aller Vorsehung seine Leidenschaft für die Literatur entdeckt, in die akademische Welt eintritt und dort aber zeitlebens Zaungast bleibt. Er heiratet unglücklich, weil ihm gesellschaftliche Stellung und Geld fehlen, erntet Ächtung, als er sich nicht freiwillig für den Kriegsdienst meldet, zieht seine einzige Tochter liebevoll auf, bis auch diese ihm weggenommen wird, und wird plötzlich zur Hassfigur des Fakultätsvorsitzenden. Stoner ist sich bewusst, dass man sein Leben für gescheitert halten wird. Doch weiss er, dass er stets sich selbst geblieben ist.
Richard Ford:
Kanada
Dass Bankräuber Kinder haben, ist nicht vorgesehen. Dass Bankräuber dabei glücklich verliebt sind und auf eine erfolgreiche Zeit bei der Navy zurückblicken (er) oder polnisch-jüdische Lehrerinnen sind (sie), auch nicht. Der Banküberfall jedoch passiert, misslingt, und die Zwillinge der Delinquenten werden auf eine Odyssee durch Gut und Böse geschickt, welche sie nach Kanada führt. Wunderbar erzählt aus der Perspektive des 15-jährigen Dell Parson.
Raymond Carver:
Beginners
Der Amerikaner gilt als Urvater der neorealistischen Short-Stories. Er erzählt aus dem Leben der einfachen Leute, meist Gestrandeten und Hoffnungslosen. Auf minimalstem Platz schafft er es, ganze Universen einzufangen. Die ersten Veröffentlichungen wurden von seinem Lektor bis auf die Hälfte zusammengekürzt und diese Lakonie wurde Carvers Markenzeichen. Jetzt erst ist «Beginners» ungekürzt erschienen. – Carver, selber Alkoholiker, starb mit 50 Jahren. Viele seiner Short-Cuts wurden 1993 von Robert Altman verfilmt. – Für diejenigen, die mehr Carver bruchen: «Würdest Du bitte endlich still sein, bitte» und «Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden.» (Nur schon die Buchtitel sind den Kauf der Bände wert!)
Paul Auster:
Sunset Park
Was ist es eigentlich, das Auster so lesenswert macht? Sein neuer Roman «Sunset Park» ist nichts anderes, als eine rückwärts erzählte Chronologie des Scheiterns. Da ist der 28-jährige Miles, der lust- und ziellos von allem Abschied genommen hat, was ihn einst ausmachte. Er mäandriert durch Tätigkeiten, Orte und Begegnungen, stets teilnahmslos und passiv. Dennoch übt «Sunset Park» eine lustvolle Sogwirkung aus, deren man sich nicht entziehen kann.
Julian Barnes:
Vom Ende einer Geschichte
Ist das Buch zu Ende gelesen, wird gleich nochmals von vorne begonnen, denn scheinbar unwichtige Passagen bestimmen nun die Geschichte: Der biedere Webster muss sich an seinem Lebensende an die Jugendfreundschaft mit dem hochbegabten Adrian erinnern und wird plötzlich gewahr, dass alles anders war, als es schien. Die Erinnerung kommt träge, das Entsetzen ist gross und Websters Welt gerät aus den Fugen.
Margaux Fragoso:
Tiger Tiger
Die Amerikanerin Margaux Fragoso wir dafür verurteilt, dass sie ein Buch von ihrer Liebe zu dem Mann schreibt, der sie vom Alter von sieben Jahren an fünfzehn Jahre lang sexuell missbraucht. Es sei naiv, einen Pädophilen so undistanziert und sympathisch zu porträtieren. Dieser moralische Vorwurf ist paradox, denn nur durch das Erzählen – so verstörend der Bericht auch für die Leserschaft sein mag – wird nachvollziehbar, wie solche Beziehungen zustande kommen und über Jahre funktionieren.
Tom Rachman:
Die Unperfekten
Standort: Rom. Setting: Newsroom. Geschichte: Das Geld geht aus, eine internationale Zeitung sieht ihrem Ende entgegen. – Verzweifelt und voller Kraft wehren sich die Zeitungsmacher gegen das Unausweichliche. Erzählt wird der langsame Untergang in vielen abgeschlossenen, dicht verwobenen Kurzgeschichten, die als Ganzes einen grossartigen Gesellschaftsroman ergeben. Kurzweilig, melancholisch und klug – ein Buch zum Lieben.
Philip Roth:
Nemesis
So wie Joseph Roth in «Hiob» lässt Philip Roth in seiner neuen Novelle «Nemesis» den jungen Gutmenschen Mr. Cantor mit Gott hadern. Dank seiner Kurzsichtigkeit vom Kriegsdienst befreit, kämpft er als Arzt im elend heissen Sommer 1944 in Newark gegen die furchtbare, damals noch unheilbare Polioepidemie an. Er wird verführt, erliegt der Versuchung und macht sich schuldig. Seltsam distanziert wird hier ein böser Streich der Natur erzählt.
Patti Smith:
Just Kids
Dieses Buch ist das eingelöste Versprechen der Künstlerin Patti Smith an ihren Freund Robert Mapplethorpe, ihre gemeinsame Zeit nie zu vergessen. Sie erzählt von den ersten Jahren in New York, bevor sie beide Weltruhm erlangten und bevor Mapplethorpe 1989 an Aids starb. «Er nahm meine Hand und liess sie nie mehr los», steht da. Unglaublich berührend, klug und unsentimental.
Martha Gellhorn:
Ausgewählte Briefe
Die Briefe der ehemaligen Kriegsreporterin erstrecken sich beinahe über das ganze 20. Jahrhundert. Mit ihrem hellwachen und rebellischen Geist kommentiert das Zeitgeschehen bis zu ihrem Freitod im Alter von 90 Jahren. In der wunderschönen, in Leinen gebundenen Edition von Doerlemann erschienen sind auch ihre Erzählbände «Paare», «Muntere Geschichten für müde Menschen» und «Das Wetter in Afrika». Alles lesen! Unbedingt!