Lesen Sie auch? Die hier vorgestellten Bücher empfehle ich herzlichst zur Lektüre — weil sie Seite für Seite jeden gedruckten Buchstaben wert sind. Fehlt Ihr Lieblingstitel? Dann schreiben Sie mir und ich lese ihn.
Sally Rooney:
INTERMEZZO
Was Sally Rooney in diesem Roman hinkriegt, ist pure Kunst. Sie sneekt sich unverschämt in die Köpfe zweier Brüder und nimmt uns mit in deren Innerstes. Die beiden unterschiedlichen Männer müssen sich nach dem kathartischen Tod des Vaters neu sortieren. Sie ringen dabei miteinander, kämpfen gegeneinander, referieren auf die unterschiedlich erlebte Vergangenheit. Derweil der eine (Manipulations-Genie) seinen Schmerz mit Tabletten und Sex übertüncht, nähert sich der andere (Schach-Genie) behutsam einer neuen Liebe. Abwechselnd schwimmen und tauchen wir in den beiden Köpfen — und sind im Nu süchtig von diesem Sog, der nur eine Sally Rooney (Buch-Genie) schafft!
Gianni Solla:
Bei Licht ist alles zerbrechlich
In poetischer Sprache erzählt Gianni Solla von der Freundschaft dreier Jugendlicher im Nachkriegsitalien. Im Dorf heisst es plötzlich, dass sie kommen. Wer? Die Juden. Hierher, wo Davide und Teresa wohnen? Warum hierher? Warum zu uns? Warum werden wir so vom Duce bestraft? Die faschistische Dorfgemeinschaft ist sich einig, dass das nicht geht. Doch in dem Moment, als Davide den Jungen aus dem Militärbus aussteigen sieht, die Hände anmutig gegen das Blenden der Sonne streckend, erkennt er, was Schönheit ist. Und wie hässlich sie hier sind. Fortan ist Davide getrieben vom Wunsch, zu werden wie dieser Junge Nicolas.
Michelle Steinbeck:
Favorita
Einem Höllenritt gleich peitscht die Autorin ihre Protagonistin durch Italien. «Es tut mir leid, deine Mutter wurde getötet», so beginnt der Roman mit einem kryptische Anruf aus dem Krankenhaus in Palermo. Und so macht sich Fila auf die Suche nach Mutters Mörder. Und auf die Suche nach dem Leben dieser Frau, die nur sporadisch auftauchte und immer für Chaos sorgte. Ordinär, laut und unberechenbar war sie, die Mutter, das schiere Gegenteil der Grossmutter, die vor lauter Assimilation ihre eigene Sprache vergass. Also reist Fila von der Schweiz in den Süden und begibt sich in die Unterwelt, wo Zuhälter Geliebte sind, Raketen Frauen retten, Feministinnen in einer Salamifabrik leben und sich Realität und Fiktion vermischen. Ganz nebenbei wird ein zweiter Mord aufgedeckt, der Mord an der schönen Sisina, die in den 1940er Jahren kurz vor ihrer Heirat hinterrücks erdolcht wurde … Favorita ist ein Gesamtkunstwerk, fulminant und wunderbar!
Paul Lynch:
Das Lied des Propheten
Paul Lynch erzählt die Geschichte einer irischen Familie, die nach und nach seine Mitglieder verliert: Larry, der bekannte Gewerkschafter, wird kurz nach dem ersten Auftauchen der neu gegründeten Geheimpolizei inhaftiert. Der älteste Sohn, kämpferisch und seinen Vater schmerzlich vermissend, geht in Untergrund. Der mittlere Sohn verschwindet später, wenn das Land bereits vom Bürgerkrieg zerstört ist. Mittendrin die Wissenschaftlerin und vierfache Mutter Eilish Stack, die sich mit Tochter und Baby weigert, ihre abhanden gekommenen Männer zu verlassen. Irgendwann sind Angst und Terror so gross, dass sie eine Entscheidung fällen muss. «Wenn es so etwas wie ein zentrales Buch für unsere Zeit gibt dann ist es dieses. Brillant und eindringlich» The Observer» The Observer. «Ein Triumph des emotionalen Erzählens mutig und anregend.» Booker Prize Jury.
Percival Everett:
James
Die «Abenteuer des Huckleberry Finn» sind der bekannteste Roman von Mark Twain und gelten als uramerikanische Geschichte schlechthin. Percival Everett erzählt die Geschichte nun neu — aus Perspektive des Negers Jim. Jim, der richtig James heisst, ist ein gebildeter schwarzer Sklave, der sich permanent verstellen muss, um seine Besitzer nicht zu provozieren. Er beherrscht das Dummsein dermassen, dass er Sklavenkinder darin unterrichtet, sich dumm zu stellen. Denn nur wer unterwürfig und unwissend ist, hat eine Chance zu überleben. Als man James nach New Orleans verkaufen will, flieht er gemeinsam mit Huck gen Norden in die Freiheit … Was in der Originalfassung noch als abenteuerliche Geschichte erscheint, wird bei Percival Everett zur bittere Realität der menschenverachtenden Sklaverei.
Colombe Schneck:
Paris-Trilogie
Colombe Schneck wächst in den Achtzigerjahren als Kind linksliberaler jüdischer Eltern in der Pariser Bourgeoisie auf. Als sie mit siebzehn ungewollt schwanger wird, ist das die erste grosse Zäsur in ihrem Leben. Die zweite: Der viel zu frühe Tod ihrer besten Freundin Héloïse, mit der sie seit der Kindheit eng verbunden war. Die beiden besuchten die besten Schulen und Universitäten, kämpften mutig gegen gesellschaftliche Erwartungen und fühlten sich dennoch weniger emanzipiert als gedacht. Die dritte Zäsur ist eine unerwartet intensive Liebe, mit fünfzig Jahren, vielleicht die glücklichste ihres Lebens überhaupt. Melancholisch, zugleich klar und direkt, eine packende Mischung aus Energie und Ennui, so DIE WELT.
Constance Debré:
Love Me Tender
«Ich sehe nicht ein, warum die Liebe zwischen einer Mutter und ihrem Sohn anders sein sollte als andere Arten von Liebe. Warum wir nicht aufhören dürfen, uns zu lieben.» Ein Sohn kann das Interesse an seiner Mutter verlieren, eine Mutter hingegen kann ihren Sohn nicht einfach verlassen. Constance Debré tut es — und zwar unfreiwillig. Als sie beginnt, ihre Homosexualität auszuleben und ihr Leben als Pariser Ehefrau, Mutter und Anwältin hinter sich lässt, scheint zunächst alles in Ordnung. Doch als sie ihrem Ex-Mann von ihrem Lesbischsein erzählt, entzieht er ihr nach und nach das Sorgerecht für den achtjährigen Sohn. Er trickst sie aus und verleumdet sie so, dass sie später vor Gericht keine Chance mehr hat. In ihrem Schmerz rasiert sich Constance den Kopf, lässt sich «Hurensohn» auf den Bauch tätowieren, trinkt und vögelt und vögelt und trinkt. Und schreibt. Entstanden ist ein radikaler Text. Ein Wahnsinnsbuch!
Gerbrand Bakker:
Der Sohn des Friseurs
Der neue Roman von Gerbrand Bakker ist ein wunderschönes Vexierspiel, in das er sich selber als Schriftsteller einflicht. Gespiegelt wird die Geschichte eines Sohnes ohne Vater sowie die eines Vaters ohne Sohn erzählt. Beide sind sie Friseure, so wie es schon der Grossvater war. Im Roman passiert erstmal nicht viel. Wir lernen Simon kennen, einen Mittvierziger, der seinen unaufgeregten Alltag mag. Wenn er sich zwischendurch einsam fühlt, so tröstet er sich mit One-Night-Stands. Als sein Stammkunde, das Alter Ego Bakkers, jedoch ein Buch über einen Friseur schreiben will und Simons Leben zu durchleuchten beginnt, begibt dieser sich selber auf die Recherche nach dem Vater, den er nie kannte.
Lion Christ:
Sauhund
Rauschhaft und wie mit einen Retro-Filter gefilmt, schauen wir Flori bei seiner erster Berührung mit einem anderen Jungen zu. Zuerst zufällig. Dann fahren sie mit dem Auto in den Wald. Niemand darf nichts wissen. Selbstverständlich hält dieses Leben gar niemand aus. Flori muss in die Stadt. Ohne sich zu verabschieden sucht er sein Liebesglück in München. 1983. Man trifft sich im Park. Es erscheinen Schwulen-Annoncen in den Zeitungen. Erste Aids-Meldungen schwappen aus den USA über. Schwulenseuche. Schwulenglück. Flori begreift das Spiel der unverbindlichen und bald käuflichen Liebe schnell und entwickelt sich zu einem richtigen Arsch. «Mit Sauhund setzt Lion Christ Flori allen vergessenen Liebenden des ersten AIDS-Jahrzehnts ein rauschhaftes Denkmal.»
Necati Öziri:
Vatermal
Arda kennt seinen Vater nicht, doch will er unbedingt, dass dieser ihn kennenlernt. Deshalb erzählt er ihm seine Lebensgeschichte. Unschlüssig, wie den unbekannten Vater anzusprechen, entscheidet er sich weder für Baba noch für Babam sondern für den Vornamen Metin: «Erzählen ist wie Wasser, Metin, einmal unterwegs, findet es seinen Weg von selbst.» Arda berichtet wie seine Mutter nach Vaters Verschwinden in Deutschland den Boden unter den Füssen verliert und wie die Schwester weggegeben wird, weil Mutter arbeiten muss. So wie schon deren Mutter. Er erzählt von seinen Freunden, die allesamt ohne Väter aufgewachsen sind — und unter permanenter Vorverurteilung von Behörden und Gesellschaft. «Die Männer, mit denen wir in Berührung kamen sorgten dafür, dass wir Angst bekamen, vor der Berührung mit Männern und anderen Jungs.» Necati Öziris Debüt ist eine Wucht. Und wer die Chance hat, diesen umwerfenden Autoren auf der Bühne zu erleben, der kann sich auf noch viel mehr Wucht freuen!
Terezia Mora:
Muna oder Die Hälfte des Lebens
Als sie ihn das erste Mal sieht, den Mann, ist es um sie geschehen. Nach einer gemeinsamen Nacht verschwindet er mit dem Mauerfall und sie sehen sich erst Jahre später im Westen wieder. Ihre Liebe ist grenzenlos wie damals. Sie begehrt ihn, bedrängt ihn, zwingt sich ihm geradezu auf, und lässt sich betrügen, demütigen, würgen, schlagen. Sie gelobt nach jedem neuen Gewaltexzess, ihn einfach noch besser zu lieben. Allen Warnungen von Mutter und Freundinnen zum Trotz, sinkt sie tiefer in diese Beziehung und löscht sich selber bis zur Nichtexistenz aus. Fassungslos hören wir zu, wie die Ich-Erzählerin, eine schöne und kluge, promovierte Literaturwissenschafterin, in kristallklarer Sprache ihre Liebessucht bis ans bittere Ende ausformuliert.
Elliot Page:
Pageboy
Ellen Page wird Elliot Page — von she zu he. That’s it. Das ist die Geschichte. Und so einfach könnte sie sein, wenn Page nicht zwanzig Jahre lang Ausgrenzung, endlosem Leid und Selbstzweifeln ausgesetzt gewesen wäre. In «Pageboy» erzählt Elliot seine Wahrheit: vom Aufwachsen in der kanadischen Hafenstadt Halifax, vom Erwachsenwerden im von traditionellen Geschlechterrollen besessenen Hollywood. Von Sex, Liebe, Trauma und schwindelerregenden Erfolgen wie der Oscar-Nominierung für «Juno» mit Zwanzig. «Pageboy» ist Geschichte eines Lebens, das allem und jedem mit Trotz, Mut und Freude entgegentritt.
Philipp Oehmke:
Schönwald
Die ganze Familie trifft sich zur Eröffnungsfeier des queeren Buchladens der Schwester in Berlin. Bruder Eins fliegt aus NYC ein, Bruder Zwei reist mit dem Maybach seine Schwiegervaters mitsamt Kind und Kegel an, die Eltern kommen mit dem Zug, dabei wären sie lieber in Köln geblieben. Die Eröffnung mündet in einer mittleren Katastrophe, die weder Mutter noch der New Yorker retten können. Wie gross die persönlichen Katastrophen aller Familienmitglieder jedoch wirklich sind, lässt sich noch nicht erahnen. Philipp Oehmke rollt jede Lebensrealität in schönster Weise auf — «Schönwald» ist Jonathan Franzen in Deutsch! «Der immer ersehnte, nie gelieferte aktuelle deutsche Gesellschaftsroman, hier ist er.» Jens Jessen, DIE ZEIT
Anne Berest:
Die Postkarte
Auf der Postkarte ohne Absender stehen nur vier Namen: Ephraïm, Emma, Noemi, Jacques. Alle vier wurden vor der Geburt von Anne Berests Mutter deportiert und starben in Auschwitz. Mehr als 60 Jahre später taucht diese Postkarte auf — und Anne Berest beginnt über ihre Vorfahren, die Familie Rabinovitch, zu recherchieren. Entstanden ist literarischer Coup, der seit seinem Erscheinen im Herbst 2021 auf der französischen Bestellerliste steht. «Eine Suche, in der sich Thriller und Requiem vereinen.» Le Point «Alle drei, vier Sätze umarmt es einem das Herz, wenn Berest voller Liebe, Witz und Wärme Menschen aufleben lässt, die sich ärgern, sich freuen, die arbeiten, die sich lieben oder auch nicht, die planen und hoffen und bei alldem so tragisch ahnungslos sind, an das gute Ende, an die Vernunft des Menschen glaubend, dass man laut aufschreien möchte.» Jüdische Allgemeine
Toni Morrison:
Rezitativ
Die Nobelpreisträgerin konstruiert ein Vexierbild: Vom ersten Satz an ist klar, dass eine der beiden Protagonistinnen schwarz ist und die andere weiss — doch welche ist welche? Twyla und Roberta begegnen sich als Achtjährige im Kinderheim. Als Outcasts sind sie im Nu unzertrennlich, stellen einander keine Fragen, wohl wissend, dass Fragen nichts Gutes mit sich bringen. Sie verlieren sich aus den Augen und treffen erst als Erwachsene in drei kurzen Episoden aufeinander. Die Begegnungen sind brüsk, denn die ihre jeweiligen Lebensrealitäten könnten nicht unterschiedlicher sein. Und es entzündet sich im Nu ein Konflikt rund um die Erinnerung an damals, als im Kinderheim eine schwarze — war sie wirklich schwarz? — Küchenhilfe gequält wurde. «Die Wiederentdeckung von Toni Morrisons einziger Erzählung, die 1983 erschien, ist eine literarische Sensation und enthält die Quintessenz ihres Schaffens.»
Marlene Streeruwitz:
Tage im Mai
Die Sätze schweben in der Luft, sind Gedankenfetzen, Anekdoten, Selbstgespräche, vielmehr Leerstellen denn Handlungsanweisungen. Es monologisieren alternierend die Mutter, eine mittellose Übersetzerin, ihre Tochter, eine sich durchs Leben schlingernde Aktivistin, sowie die Grossmutter. Alle drei Frauen sind uneheliche Kinder. Alle sind sie geprägt von der Absenz ihrer jeweiligen Väter. Und alle drei suchen den Weg zurück ins Leben nach der Corona-Pandemie. Die Entfremdung zwischen den drei Frauen scheint unverrückbar. So mäandrieren sie jeweils zwischen Wien, Salzburg, Zürich und Netflix in dieser neuen Welt, in der Krieg wieder zum Alltag wird.
Sarah Jollien-Fardel:
Lieblingstochter
Zwei Schwestern beanspruchen jeweils für sich, Lieblingstochter des Vaters zu sein. Die eine nimmt sich das Leben, die andere versucht ihr späteres Leben lang der rohen und radikalen Brutalität, der sie ausgesetzt waren, zu entkommen. Zuhause war es simpel: Der Vater schlug, systematisch und ritualisiert. Die Mutter schaute weg, ebenso systematisch und ritualisiert. Dass sich selbst Zeugen dieser Kindheit Jahre später kaum trauen, das Gewesene zu benennen, zeigt den Sprengstoff von dysfunktionalen Familien exemplarisch auf. «Jollien-Fardel erzählt direkt und atemlos. Die Wucht, mit der sie die Verheerungen entfaltet, packt.» NZZ am Sonntag
Bernardine Evaristo:
Mr. Loverman
Er will den Rest seines Lebens mit Morris verbringen, seinem Geliebten seit Jugendtagen. Während der schwule Barrington Walker seinen Plan schärft, im Alter seine «Barrysexualität» offen auszuleben, bringt sich das Personal um ihn herum in Stellung: die tief religiöse und von ihrer Ehe bitter enttäuschte Carmel, seine erwachsenen Töchter sowie der Geliebte Morris, der nicht mehr darauf hoffen mag, dass Barry zu ihrer Verbindung steht. Die beiden Männer waren jung und jeweils frisch verheiratet aus der Karibik nach London emigriert und hatten hier ihr ganzes Leben verbracht. Derweil Barry noch mit sich ringt, bricht sein Outing unkontrolliert aus … Bernardine Evaristo jongliert witzig und rasant mit den beiden Erzählstimmen von Ehemann und Ehefrau und fertigt so ein Panoptikum durch Class und Race der Caribbean Community in England.
Martin Kordić:
Jahre mit Martha
Anmutig und leichtfüssig umreissen die «Jahre mit Martha» die asymmetrische Liebesgeschichte zwischen Željko und der viel älteren Martha, Frau Gruber. Die Professorin steht für alles steht, was er erreichen will: Habitus, Bildung, Souveränität. Die Sequenzen der Liebesgeschichte spielen sich in Marthas Villa ab, an der Nordsee, an der Universität, wo Željko studieren wird, sowie auf einem Roadtrip nach Zagreb zum Begräbnis des Patriarchen der kroatischen Familie. Die Liebenden beobachten sich andauernd und wir als Leserschaft schauen zu. So zum Beispiel, wenn Željko das Thema Armut in zwei Strichen radikal seziert, oder später, wenn er nach seinem Hochschulabschluss von einer Machtfalle in die nächste tappt. Wie hoch auch immer er sein Wissen auftürmt, wie viel Martha auch immer manipuliert, seine Herkunft zwingt ihn in die Knie. Integration: nicht geglückt.
Jennifer Egan:
Candy Haus
Welcome to Big Data. Eine App erlaubt es Menschen neuerdings, ihr Bewusstsein und ihre Erinnerungen in eine Cloud hochzuladen. Hinter diese Erfindung steht Bix Bouton, Gründer einer Tech-Start-up. Die Erinnerungen eines jeden können nun nicht nur individuell hochgeladen werden, sie können auch für das Kollektiv freigeschaltet sein. Wer also zum Beispiel 1972 im titelgebenden Candy House inmitten des Dschungels mit dabei war, kann dank der App nachvollzogen werden. Wer damals was sagte, wer welches Gras rauchte, wer wen liebte. Das Buch der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Jennifer Egan hoppt zwischen New York, Chicago, Los Angeles — zwischen Wüste und Regenwald und das über die weite Zeitspanne von den 1960er-Jahren bis ins 2023. Überdreht, witzig, raffiniert. Ein rundum schöner Pageturner!
Hussein Mohammadi:
Scheherazades Erben
Zwei Brüder sind unterwegs nach Kabul, die abtrünnige Masomah zu finden. Die Mission könnte für die beiden nicht unterschiedlicher sein, da Ahmad weiss, dass er seine Tochter vor den Konsequenzen für diesen Ungehorsam nicht beschützen kann, derweil Eshag, Vater des zukünftigen Bräutigams des Mädchen, seine Ehre retten muss. Mit der Reise vom ländlichen Afghanistan in die Stadt beginnt dieser Roman, der episodisch die Leben aller durch diese Flucht verbundenen Menschen entfaltet. Die Episoden kumulieren in einem Showdown — einer Szene, die in ihrer Dramaturgie kaum zu überbieten ist.
Daniela Dröscher:
Lügen über meine Mutter
Mutters Körpergewicht ist Seismograph des ganzen Unglücks: Wäre sie weniger dick, gelänge ein gutes Leben. Vater ist überzeugt, durch Talent, Fleiss und Geschick alles zu schaffen — wäre da nur nicht seine Frau. Aufgewachsen im Höher schneller weiter der Nachkriegszeit weiss er insgeheim, dass sein Aufstieg auf der Ausbeutung der Frau basiert. Dennoch oder vielleicht gerade deswegen, lässt er keine Gelegenheit aus, sie zu beschämen. Die Scham ist ansteckend, bald übernimmt die Ich-Erzählerin, das Mädchen Ela, diesen Blick auf Mutter, die mit ihrer Fülle und Grossherzigkeit so gar nicht in die Provinz passen will. Ein sagenhafter Bericht — genial für alle, die in disfunktionalen Familien aufgewachsen sind!
Katie Kitamura:
Intimitäten
Frisch aus New York nach Den Haag gezogen, wird die Dolmetscherin mit der prestigeträchtigen Aufgabe betreut, den Prozesse gegen einen der schlimmsten Kriegsverbrecher simultan zu übersetzen. Stets mit der Stimme dieses Mannes im Ohr, derer sie bald hörig ist, versucht sie in der neuen Stadt Fuss zu fassen. Sie richtet sich ein, lernt Menschen kennen, verliebt sich. Katie Kitamura verbindet in diesem Roman Privates mit Gesellschaftspolitischem — ein intellektuelles Vergnügen mit hypnotischer Sogwirkung.
Gary Shteyngart:
Landpartie
Was Literatur so alles kann, wissen wir ja alle. Wie herrlich Literatur uns jedoch vom Vergessen abhalten kann, erfahren wir in der «Landpartie» des grossen Romanciers Gary Shteyngart: Während in New York das Coronavirus wütet und tötet, lädt der russischstämmige Schriftsteller Sasha Senderovsky eine illustre Gruppe alter Freunde auf seinen Landsitz ein. Maskentragend und in vorgeschriebener Distanz wird hier das Leben hysterisch gefeiert. Acht Freunde, vier Romanzen und ein Tod sind die Bilanz. Jonathan Safran Foer, der andere grosse Romancier, über seinen Kollegen: «Gary Shteyngarts Romane sind amerikanisches Kulturgut. Er hat schon immer mit Humor und Herz geschrieben, aber nie so sehr wie hier. Wenn Sie dieses Buch in der Öffentlichkeit lesen, seien Sie bloss vorsichtig: Es kann sein, dass sie laut loslachen müssen — oder dass Ihnen die Tränen kommen.»
Damon Galgut:
Das Versprechen
Zuerst stirbt Ma, dann stirbt Pa, später stirbt Anton, weiter Astrid und als nur noch Amor übrig ist, beschliesst sie, das Versprechen ihrer Familie an die schwarze Frau, die ihr ganzes Leben für sie gearbeitet hat, endlich einzulösen. «Das Versprechen» — ausgezeichnet mit dem Man Booker Prize 2021 — erzählt chronologisch vom Zerfall einer weissen südafrikanischen Familie, die auf einer Farm ausserhalb Pretorias lebt. Dreissig Jahre, von der Apartheid bis hin zur Demokratie, in denen sich wenig verändert. Brillante Sprache, unfassbar dicht!
Adania Shibli:
Eine Nebensache
Negev-Wüste, 1949. Ein palästinensisches Beduinenmädchen wird von israelischen Soldaten, die die Grenze zu Ägypten sichern, aufgegriffen, geschändet, getötet und verscharrt. Exakt 25 Jahre kommt ein weiteres palästinensisches Mädchen zur Welt, das als erwachsene Journalistin von diesem Verbrechen erfährt. Von dieser «Nebensache» im Erbauen des neuen jüdischen Staates. Die Journalistin überwindet Ängste und Checkpoints, recherchiert im israelischen Militärmuseum und sucht am Schauplatz des Verbrechens nach Zeichen. — Adania Schiblis schmaler Band ist eine Wucht, ein tonnenschweres Geschütz gegen Gewalt und für Gerechtigkeit.
Karl Ove Knausgård:
Der Morgenstern
Was für eine Freude, was für ein unendlicher Hochgenuss, den neuen Knausgård zu lesen! Der Text mäandriert unter einem neu aufziehenden Himmelssterns durch die Niederungen normaler Existenzen. Da sind ein Literaturprofessor, dessen Frau wieder einmal psychotisch ist. Eine Pastorin, die vom Glauben abfällt, ein junger Hortner, dem ein Kind vom Wickeltisch fällt, oder eine medikamentenabhängige Nachtwache einer Klinik. Knausgård reiht sein Personal in neun Ich-Erzählstimmen scheinbar ohne jede Systematik auf — und hält es durch die gemeinsame Furcht vor der drohenden Apokalypse zusammen.
Yael Inokai:
Ein simpler Eingriff
Wo der Roman spielt oder wann genau, ist ungewiss. Wie ein Kammerstück angelegt, fokussiert er auf drei Personen: eine junge Krankenschwester, einen experimentierfreudigen Arzt, der psychisch kranke Menschen mittels Hirnoperation heilen will, sowie eine weitere Krankenschwester. Die Operationen sind vom Glauben an den Fortschritts getrieben — und werden am wachen Patienten ausgeführt. Um die Patientinnen und Patienten zu beruhigen, spielt und spricht die junge Krankenschwester während des ganzen Eingriffs mit ihnen. Denn nur ihre ruhige Art könne deren Ängste beschwichtigen, wird ihr gesagt. So assistiert sie dem Irrsinn — und verliebt sich nebenbei in ihre Zimmergenossin.
Fatma Aydemir:
Dschinns
Da ist Hüseyin, der nach Jahrzehnten Schichtarbeit in Frührente geht, um sich in Istanbul den Luxus einer Wohnung zu leisten. Da sind seine Frau Emine, auf der eine schwere Traurigkeit lastet, sowie ihre älteste Tochter Sevda, die Opfer eines rassistisch motivierten Brandanschlag wurde. Weiter Hakan, der schon irgendwie klarkommt, sowie Peri, die Erste der Familie, die in Deutschland studiert. Und dann noch der Jüngste, Ümit, der verliebt ist — in einen Mann. Die Innenwelten dieser sechs Familienmitglieder kumulieren in «Dschinns» zu einem grossen Familienroman. Der Dschinn übrigens, ein unsichtbares Lebewesen, das im islamischen Glauben gemeinsam mit den Menschen die Welt bevölkert, steht titelgebend für die diffuse Angst, die sich nie vollständig greifen und aussprechen lässt.
Hila Blum:
Wie man seine Tochter liebt
Eine Frau steht auf einer dunkeln Strasse in Groningen, fünftausende Kilometer ihrer Heimat entfernt, und beobachtet durch die erleuchteten Fenster zwei Mädchen beim Spielen. Sie kennt die Kinder nicht, sie wusste bis vor Kurzem nicht einmal von deren Existenz. Es sind die Töchter ihrer eigenen Tochter Lea. «Wäre sie fromm geworden, einer Sekte beigetreten, einer Macht erlegen, die sie ihres eigenen Selbst beraubte … Aber sie war Lea geblieben, sie war Lea, und sie wollte nicht mehr meine Tochter sein.» Hila Blum zeichnet in feinen kurzen Episoden das Schicksal einer Frau, die eigentlich einsehen sollte, dass man das Leben seiner Kinder nicht lenken kann — wie sehr man sie auch liebt. Grossartig!
Marco Balzano:
Wenn ich wiederkomme
Welche Tragödien Migration mit sich bringen kann, zeigt Marco Balzano in «Wenn ich wiederkomme» eindrücklich auf. Im ersten Drittel lernen wir eine Familie kennen, deren Mutter in einer Nacht-und-Nebel-Aktion abreist, um nach Italien arbeiten zu gehen. Ihre Kinder und der trinkende Mann sind paralysiert und verweigern der Mutter bald die täglichen Videoanrufe. Im zweiten Drittel wird ihre Arbeitsrealität als Altenpflegerin und Kinderfrau gezeigt. Und im letzten Drittel passiert etwas, das die Mutter zwingt heimzukehren. Sie kehrt als gebrochene Frau heim, die alles opferte und noch mehr verlor. Und versinkt, wie viele andere Arbeitsmigrantinnen auch, in eine Depression, die in Rumänien schlicht die «italienische Krankheit» genannt wird.
Wolf Haas:
Müll
Das Eintauchen in «Müll» ist mehr als Lesegenuss — es ist Lebensgefühl pur. Brenner, Simon, ehemaliger Polizist, arbeitet jetzt in einer Wiener Mülldeponie. Als dort plötzlich ein Knie auftaucht, später ein zweites Körperteil und danach ein drittes — nimmt Brenner Witterung auf und beginnt auf eigene Faust zu ermitteln. Warum vom Herz des zerlegten Toten jegliche Spur fehlt, will ihm einfach nicht in den Kopf. Gleichwenig seinen ehemaligen Kollegen der Kripo … Und dann ist da noch eine junge Frau. Und ein tauber Müllmann. Und eine Fahrt um Leben und Tod mit dem Lastwagen über die Grenze.
Szczepan Twardoch:
Demut
Der Titel «Demut» kommt bei Szczepan Twardoch nicht etwa vom Hinnehmen des Gegebenen — nein, Demut kommt bei ihm von Demütigen. Alois Pokora, der tragische Held dieser Geschichte, wird erstmals gedemütigt, als er seiner Familie und seinem Milieu entrissen wird und ins Gymnasium kommt. Später auf der Offiziersschule. Dann im Krieg, den er nur verlieren kann, und vor allem und immer wieder: von Agnes. Dieser explosive Monolog eines schlesischen Offiziers an seine Geliebte, der in einem Satz die Erzählperspektive dreimal wechseln kann, mäandriert vom Ersten Weltkrieg in die Zwischenkriegszeit, von Polen nach Berlin und wieder zurück. Ein Lehrstück in Sachen Sinnlosigkeit, ein Meisterstück in Sachen Erzählkunst.
Mirna Funk:
Zwischen du und ich
Die in Ostdeutschland aufgewachsene Nike hat eigentlich keine jüdische Identität — sondern eine kommunistische. Was ihrer Grossmutter widerfuhr, prägte ihre Mutter und entsprechend auch sie selbst: So nimmt Nike als Kind der third generation ihre Beziehungsunfähigkeit als Gottgegeben hin. Bis sie Mitte Dreissig nach Tel Aviv auswandert, ihr Jüdischsein zu erforschen, und dabei auf Noam trifft. Auch Noam ist Opfer seiner Geschichte. Bei ihm ist die Gewalterfahrung häuslich und männlich und zwar durch seinen Onkel so profund geprägt, dass er selbst als Erwachsener nicht aus dessen System ausbrechen kann. Nike und Noam versuchen sich in der Liebe. Es klappt nicht.
Colm Tóibín :
Der Zauberer
Muss man sich eine weitere Biografie über Mann antun, dessen Leben und Werk bereits mannigfach bis in den letzten Winkel ausgeleuchtet ist? Ja, man muss! Im neuen Roman des Iren Colm Tóibín wird Thomas Mann als Aussenseiter gezeichnet: «Seine Homosexualität, die er hinter der Familienfassade verborgen hat, ist dabei nur eine der vielen Fremdheitserfahrungen, aber vielleicht doch der entscheidende Riss, der schon den jungen Thomas für immer von seinen Mitmenschen trennt und erst den gnadenlosen und kalten Blick auf die Zeitgenossen ermöglicht, der dann den Schriftsteller Thomas Mann auszeichnet.Doch schon die brasilianische Mutter macht Thomas zu einem Außenseiter im protestantischen Lübeck. Dann der Absturz, der Vater stirbt, der Umzug nach München. Plötzlich gehört man nicht mehr der besten Gesellschaft an. Man bestaunt von aussen die Pringsheims, in deren Familie Thomas einheiraten wird, ohne jemals einer von ihnen zu sein. Er bleibt Provinz.» (Frank Hertweck, SWR2)
Elizabeth Strout:
Oh Wiliam!
In Elizabeth Strouts neuen Roman «Oh William» begegnen wir ihrer Heldin aus früheren Romanen: Lucy Barton. Sie erzählt von der komplexen und innigen Beziehung zu ihrem ersten Mann William: von den Anfängen, als sie noch studierten, von ihren beiden Töchtern, vom Leben in New York, den jeweiligen Herkünften — und auch vom Ende ihrer Ehe. Leichtfüssig und lebensklug die Erinnerungssequenzen, die wie Perlen auf eine Schnur gezogen werden und mit kleinen Knöpfen fixiert. Kein Wunder, sucht William noch heute den Kontakt zu seiner ersten Frau. Auch wir möchten ewig mit Dabeisein — und Lucy Barton zur Freundin haben!
Marie NDiaye:
Die Rache ist mein
Die Figuren dieses raffinierten Vexierspiels entgleiten einem immer wieder. Kaum glaubt man, sie zu erkennen, tauchen sie wieder ins Traumhafte ab. Da ist die Frau, die ihre drei geliebten Kinder ertränkt, um von ihrem Mann loszukommen. Und die andere Frau, welche die Verteidigung dieser Mörderin antreten soll. Und zuletzt der Ehemann, der — als Bindeglied zwischen den beiden — die Anwältin mit der Verteidigung seiner Frau beauftragt. Warum engagiert er sie, die ewig Mittelmässige, für diesen spektakulären Fall, der weit über Bordeaux hinaus Wellen schlägt? Anstelle von Antworten, lässt Marie NDiyane immer wieder Sequenzen einer unheilvollen Begegnung zwischen ebendiesem Mann und der Anwältin aufblitzen. Erinnerungen, die sie Schritt auf Schritt verfolgen und nie einzuholen vermögen.
Jonathan Franzen :
Crossroads
«Crossroads» ist ein atemberaubend gut geschriebener Familienroman über Moral, Religion und Vergebung. Angelegt in den Siebzigerjahren, kämpfen alle Mitglieder der Pfarrersfamilie Hildebrandt um Selbstverwirklichung — und das mit Würde: Vater Russ, knietief im Schlamm seiner Midlifecrisis steckend, begehrt seine dicke Marion nicht mehr, von deren Vorleben er nichts weiss. Die unbestritten perfekte Tochter Becky enttäuscht Bruder Clem, der sich freiwillig in die letzten Kriegstage nach Vietnam begeben will. Und dann sind da noch Perry, dessen wirres Innenleben sich im Laufe der 832 Seiten in eine ausgewachsene Psychose entwickelt, sowie der gesichtslose kleine Judson. Ob der Keim alles Unheils in Vaters rigider, mormonischer Kindheit liegt oder in Mutters schizophrenen Genen: Jonathan Franzen gelingt ein Panoptikum menschlicher Auswüchse, das zu lesen süchtig macht. Zum grossen Glück darf sich die geneigte Leserschaft auf die nächsten beiden Folgen dieser Trilogie freuen.
Douglas Stuart:
Shuggie Bain
«Shuggie Bain» ist hinreissend — in überwältigender Sprache erzählt, tieftraurig und zugleich voller Zärtlichkeit. Die Geschichte spielt im Glasgow der 80er-Jahre und handelt einem Jungen, der seine Mutter abgöttisch liebt und sie vor dem Alkoholismus zu retten versucht. Derweil sie immer tiefer in den Sumpf ihrer Sucht gezogen wird, klammert sich Shuggie stoisch an Mutters Schönheit, an ihre überlegene Sprache und ihren Willen, niemals klein beizugeben. Shuggie kommen erst sein Vater abhanden, dann die Schwester, der grosse Bruder und selbst die Geliebten der Mutter nehmen Reissaus. So wächst Shuggie als schwuler Knabe in einer Tristesse auf, die kaum zu überbieten ist. Dieser unvergessliche Roman über das Elend von Armut und Sucht hat den Booker Preis 2020 gewonnen.
Ayelet Gundar-Goshen:
Wo der Wolf lauert
«Ich sehe im Geist diese winzigen Fingerchen, die eines Neugeborenen, und versuche zu begreifen, wie sie zu den Fingern eines Mörders heranwachsen konnten. Der tote Junge heisst Jamal Jones. Auf dem Bild in der Zeitung sind seine Augen samtschwarz. Mein Junge heisst Adam Schuster. Seine Augen sind blau wie das Meer von Tel Aviv. Es heisst, er habe ihn umgebracht. Aber das stimmt nicht.» Lilach — Mutter, Ehefrau und Israelin — verzweifelt inmitten der Kulisse des amerikanischen Traums an dieser Wahrheitssuche. Kann es wirklich sein, dass ihr Junge den schwarzen Jungen ermordet hat? Was hat sie übersehen und seit wann kennt sie ihr Kind nicht mehr?! Während sich die Anzeichen um Motiv und Tötung verdichten, verhärtet sich die Lebensrealität der kleinen Familie rasant.
Stefania Auci:
Die Löwen von Sizilien
I leoni di Sicilia ist Buddenbrooks auf Italienisch — Aufstieg und Fall der bedeutendsten Unternehmerfamilie Siziliens. 1799 verlassen die Brüder Paolo und Ignazio Florio ihr erdbebenzerstörtes Dorf in Kalabrien. Sie setzen nach Palermo über, mit nichts in der Hand ausser dem Willen, es in der Metropole zu schaffen. Trotz Anfeindungen gelingt es ihnen, ihre «drogheria» bald als eines der führenden Geschäfte für Kolonialwaren zu etablieren. Als Paolo stirbt, zieht Ignazio dessen Sohn Vincenzo auf und führt ihn ins Geschäft ein. Er schickt ihn nach England, wo die Industrialisierung bereits begonnen hat, und überträgt ihm bald Verantwortung. Der junge Vincenzo erweist sich als Visionär und skrupellose Stratege, Casa Florio erlangt dank ihm Einfluss und unermesslichen Reichtum. Die Florio heiraten sich in den italienischen Adel ein und nichts mehr scheint ihnen im Weg zu stehen. Doch bringen Hochmut und Schicksalsschläge i leoni der vierten Generationen zu Fall.
Shida Bazyar:
Drei Kameradinnen
«Wir sind nicht so anders als ihr. Das denkt ihr nur, weil ihr uns nicht kennt. Weil ihr keine Kindheit hattet, die so roch wie unsere, und weil ihr keine Freundinnen habt, mit denen ihr diese stinkende Kindheit hättet teilen können.» — Saya, Hani und Kasih treffen sich nach Jahren, um die Hochzeit einer Jugendfreundin zu feiern. Am Vorabend des Festes noch lachen sie und kiffen und erzählen einander auf der Dachterrasse von ihren absurden Alltagserlebnissen. Von Rassismus, Ignoranz und Sexismus. Doch dann bahnt sich die Katastrophe an. Ein Haus geht in Flammen auf. Menschen sterben. Kasih, die Ich-Erzählerin, rapportiert atemlos und mit gigantischer Wut im Bauch von der Kumulation der Ereignisse — und führt uns dabei schön an der Nase rum.
Elizabeth Strout:
Die langen Abende
Olive Kitteridge, pensionierte Lehrerin aus Crosby, ist auch in diesem Band so kantig wie eh und je. Wir als ihre Fangemeinde kennen sie bereits seit Jahren. Wir wissen um die Entfremdung zu ihrem Sohn, um das Abhandenkommens ihres Ehemannes und um die aufkeimende Einsamkeit. Dass Olive Kitteridge nun noch jemanden kennenlernt, ist sehr überraschend. Der Mann ist Jack. Und wir staunen. «Niemand streifte ihn auch nur mit einem Blick, und so wenig neu die Erkenntnis an sich war, traf sie ihn nun doch auf neue Weise. Er war nur ein alter Mann mit einem Hängebauch, niemand mehr, den man wahrnahm. Fast hatte das etwas Befreiendes.» Elizabeth Strout zeichnet ihre Protagonisten knapp und sorgfältig und erreicht dabei unerhörten Tiefgang.
Benedict Wells:
Hard Land
Wie das Eintauchen ins Meer an einem heissen Sommertag ist dieser Roman von Benedict Wells: erquickend und magisch. Die Coming-of-Age-Geschichte ist in Missouri im Jahr 1985 angesiedelt. Der fünfzehnjährige Sam will von zuhause abhauen, weg von seiner todkranken Mutter und dem unausstehlichen Vater. Weg von der Vorstellung, später mit Dad alleine zu sein. Und weg von seiner eigenen Ungelenkigkeit, die ihn nur hindert und hemmt. Benedict Wells erzählt in einer schmerzhaften Präzision von den Nöten dieses Jungen. Er nimmt ihn an der Hand und begleitet ihn durch die schweren Jahre.
Bernardine Evaristo:
Mädchen, Frau etc.
Bernardine Evaristo bombardiert ihre Leserschaft in diesem Buch mit zwölf Lebensgeschichten von schwarzen, mittelschwarzen, halbschwarzen bis praktisch weissen Britinnen. Sie sind Schwestern, Sisters, Sistas, Frauen, Women, Wimmin und haben Brüder, Brothers, Bruvs und LGBTQI*-Mitglieder der ganzen Menschenfamilie an ihrer Seite. Die Biografien, atemlos und ohne Punkt und Komma erzählt, sind dicht ineinander verflochten — ein Panoptikum der letzten hundert Jahre Migrationsgeschichte Englands. Dass das Buch 2019 den Booker Prize gewonnen hat, erstaunt null. Man möchte einfach nur mehr davon. Mehr Buch, mehr von dieser Sprache, diesem Tempo, dieser humorvollen und zärtlichen Sicht auf die oftmals harten Schicksale.
Ronya Othmann:
Die Sommer
Die Sommer, lang sind sie und langweilig. Nichts passiert im Dorf ihrer Grossmutter in Nordsyrien, ausser wenn die Tante aus Aleppo kommt. Leyla weiss, dass sie als Tochter eines jesidischen Kurden und einer deutschen Mutter hohe Erwartungen zu erfüllen hat, nicht umsonst wurde sie von ihrem Vater nach drei anderen Leylas benannt: allesamt kurdischen Kämpferinnen, die ihr Leben für die Kultur der Jesiden liessen: «Ihr Leben, ihre Geschichte wurden an ihrem Namen gemessen. Leyla dachte, dass ihr Name nicht ihr gehörte. Sie gehörte dem Namen.» Derweil sie in München ins Gymnasium geht und sich mit der eigenen Identität auseinandersetzt, bricht der Krieg in Syrien aus. Die nächsten Jahre verfolgt der Vater Tag und Nacht rauchend am Fernseher die Zerstörung seiner Heimat – die Mutter versucht mit allen Mitteln, die Verwandten aus dem Dorf zu retten. Wie viel in diesem Roman autobiografisch ist, lässt die Ronya Othmann offen. Aber wer kann Schuldgefühle wie diejenigen von Leyla konstruieren, die nach einer Nacht mit ihrer Geliebten überzeugt ist, dass der syrische Cousin nur ihrer Selbstsucht wegen erschossen wurde?
Tayari Jones:
Das zweitbeste Leben
«Ich wusste von Chaurisse, sie hingegen nicht von mir. Meine Mutter wusste von Laverne, aber Laverne glaubte, ein ganz normales Leben zu führen. Diese grundlegende Tatsache war uns immer präsent.» So die inoffizielle Tochter über ihre Schwester, die offizielle Tochter des Bigamisten James Witherspoon. Dieser führ zwei Familien parallel und ringt mit viel Würde um ein anständiges Leben und gerechte Liebe für seine beiden Frauen und Kinder. Ein wunderbares Gesellschaftsporträt des schwarzen Mittelstandes der 1950er Jahren in den USA.
Iwan Bunin:
Ein Herr aus San Francisco
Die Erzählungen aus «Ein Herr aus San Francisco» entstehen 1914 und 1915 auf Capri, wo die russische Oberschicht zu überwintern pflegt. Hier schreibt Iwan Bunin über den Herrn aus San Francisco, der mit Frau und Tochter Europa bereist und jäh seinen Tod findet. Und über den Diener einer Adelsfamilie, der deren Kinder mit Schauergeschichten verstört, oder über den Rikschafahrer inmitten Cylons Chaos. Die Novellen gehören zum Besten der Weltliteratur, Iwan Bunin erhält 1933 als erster Russe den Nobelpreis für Literatur. Neu übersetzt und aufgelegt sind die Erzählbände nur schon der wunderbaren Ausstattung wegen ein Must-Have!
Bernhard Schlink:
Abschiedsfarben
Bernhard Schlink konstruiert in diesem Erzählband neun Leben in wenigen, präzisen und kunstvoll gesetzten Strichen — und zerstört deren Lieben neunmal genauso verlässlich. Überraschend und beglückend zu lesen. Ein Hochgenuss für alle, die sich am ewiggleichen Bildungsbürger-Setting nicht stören.
Charlotte Wood:
Ein Wochenende
Vier Freundinnen sind sie gewesen, ein Leben lang. Jetzt, wo die eine gestorben ist und die Beziehungskiste nurmehr auf drei Beinen steht, räumen Jude, Wendy und Adele das Strandhaus der Verstorbenen. Einem Kammerstück gleich erleben wir die Frauen (eine mit dementem Hund) ein Wochenende lang dabei, wie sie miteinander ringen, Fassung verlieren und Würde behalten. Präzis beobachtet, mit wunderbarer Introspektion angereichert und in leichter Sprache liest sich dieser Text in einem Wochenende.
Olivia Wenzel:
1000 Serpentinen Angst
«Ich habe mehr Privilegien, als je eine Person in meiner Familie hatte. Und trotzdem bin ich am Arsch. Ich werde von mehr Leuten gehasst, als meine Grossmutter es sich vorstellen kann.» Olivia Wenzel ist die Tochter einer Punk-Mutter in der DDR, die immer nur wegwollte, und Enkelin einer linientreuen DDR-Bürgerin. Sie ist auch Zwillingsschwester des Neunzehnjährigen, der sich vor einen Zug wirft, und Tochter eines Angolaners, der Geld und E-Mails schickt — exakt zweimal im Jahr. Das Debüt von Olivia Wenzel ist eine Sensation, sprachlich wie auch formal. In der ersten Hälfte des Buches wird die Autorin befragt, unerbittlich, penetrant. In der zweiten Hälfte dreht sich der Spiess und nun ist sie es, die Fragen stellt.
Gabriel Tallent:
Mein Ein und Alles
Weit über die Schmerzensgrenze hinaus geht Gabriel Tallent in seiner Geschichte von Turtel Alveston, dem Mädchen, das in der Wildnis von Kalifornien alleine mit seinem Vater aufwächst. Martin lernt seine Tochter nicht nur Furchtlosigkeit und Unabhängigkeit, er lernt sie auch jede Pflanze kennen und mit jedem Kaliber schiessen. Eingesperrt in diese Weltordnung, zerlegt, putzt und ölt Turtle jeden Abend ihre Sig Sauer und wartet auf den nächtlichen Missbrauch, den Beweis der grenzenlosen Vaterliebe. Diese toxische Vater-Tochter-Beziehung ist kaum auszuhalten. Fassungs- und atemlos liest man sich durch den Coming-of-Age-Roman und betet, dass Turtle überlebt.
James Baldwin:
Giovannis Zimmer
Der 1956 erschienene Roman handelt von einem jungen Amerikaner in Paris, der seine gleichgeschlechtliche Liebe zu Barkeeper Giovanni verleugnet und so am Ende eine Tragödie mitverschuldet. Dass sich James Baldwin nicht nur erlaubte, seine eigene Homosexualität zu leben und darüber zu schreiben, sondern dass er seine Protagonisten in der Welt der weissen Europäer ansiedelt, machte Furore. Bis heute gilt die tieftraurige Geschichte über Liebesunfähigkeit und Selbsthass als einer der grössten Klassiker der Schwulenliteratur.
William Melvin Kelley:
Ein anderer Takt
«A Different Drummer» erscheint 1962 und der Autor wird von der New York Times gleich mit Literaturgrössen wie William Faulkner und James Baldwin verglichen. Seine Geschichte spielt in den Südstaaten Amerikas, wo der junge Schwarze Tucker Caliban seine erst kürzlich erworbenen Felder stoisch zerstört, sein Pferd erschiesst, seinen Baum fällt und das Haus abfackelt. Dann gibt er seiner schwangeren Frau das Zeichen zum Aufbruch: «Wir sind soweit.» Und die Familie zieht, ohne ein Wort an die perplexen Zuschauer zu richten, von dannen. Kurz darauf folgt ihm eine andere Familie, eine weitere, eine nächste. Bis die ganze Gemeinde von Farbigen ihr Dorf verlässt und in einem Massenexodus gegen Norden zieht. Endlich sind die Weissen unter sich. Jetzt können sie sehen, wie sie klarkommen.
Monika Helfer:
Die Bagage
Schönheit war im voralberg'schen Tal vor hundert Jahren mehr Fluch als Segen für eine Frau von niedrigem Stand. Vor allem dann, wenn der Ehemann gerade in den italienischen Bergen fürs Vaterland kämpfte. Monika Helfer erzählt die Geschichte von Josef und Maria, ihren Grosseltern. Vor allem von Maria, die sechs Kinder gebar und im Alter von 32 Jahren starb. Ihr letztes Kind, der Balg, wurde vom heimgekehrten Vater nie beim Namen genannt, denn es galt als sicher, dass dieses die Brut des schönen Deutschen war, der immer wieder auf dem Hof gesichtet wurde.
Nicolas Mathieu:
Wie später ihre Kinder
Nachts schimmern die Lichter der Stadt romantisch. Dann treffen sich die Jugendlichen mit einer Flasche Wodka auf der mit Kondomen und Müll übersäten Geröllhalde beim Kraftwerk und erschaudern, wenn sich ihre Schultern berühren. Tagsüber ists unerträglich heiss. Dann delirieren sie wie in einem Fiebertraum, langweiligen sich zu Tode und sehnen sich nach einem anderen Leben. Der Buchtitel «Wie später ihre Kinder» ist Programm – die Lebensentwürfe von Anthony, Hacine, Clem und Steph sind längst vorgezeichnet … Ausgezeichnet mit dem «Prix Goncourt» 2019.
Ta-Nehisi Coates:
Der Wassertänzer
Hiram Walker ist der Sohn eines Plantagenbesitzers in Virginia. Er hat hellere Haut als die meisten anderen Sklaven und gibt sich der Illusion hin, auch einen anderen Wert zu haben. Sein Schöpfer Ta-Nehisi Coates hilft und ist gnädig mit seinem Protagonisten — er verleiht ihm Superkräfte: Wenn Hiram in der Nähe von Wasser ist, kann er zu seinen «tiefsitzenden Erinnerungen» vordringen und sich und andere versetzen – über Flüsse, Meere und Ozeane hinweg. Eine seltene Gabe, von seinen Ahnen ererbt. Somit wird Hiram zur Heilsfigur, der «Verpflichtete» in den Norden bringt, wo die Schwarzen bereits als freie Bürger leben. Ein zarter, phantastischer und hinreissender Roman.
Delia Owens:
Der Gesang der Flusskrebse
Die Mutter flieht vor dem gewalttätigen Ehemann, die Geschwister verschwinden nach und nach, der Vater irgendwann ebenso. So wächst Kya Clark in kompletter Isolation auf. Alleine in ihrer Hütte im Sumpfland von North Carolina, argwöhnisch beobachtet und gemieden, Marschmädchen genannt. Ihre Lebensrealität sind die Vögel, die Gezeiten des Meeres, die Muscheln, Federn, Salzbänke. Ewig hält diese Isolation nicht an und Kya kommt mit dem Leben ausserhalb ihrer Welt in Berührung — was in einem Mordprozess endet. Ein hochemotionales und atmosphärisches Märchen, das seit elf Monaten auf der Bestsellerliste der «New York Times» steht. Kein Wunder. Auch für mich gilt: Das schönste Buch 2019!
Pascale Kramer:
Eine Familie
Das Konstrukt einer Familie gerät ins Wanken, als Romain, Sohn und grosser Bruder, plötzlich auftaucht. Auf ihn, einst Liebling, später abgestürzt und lebensmüde als Obdachloser am Gare du Nord vegetierend, referieren alle Familienmitglieder in dieser Familienaufstellung. Bezeugen seinen Absturz aus jeweiliger Sicht und beschwören ihre eigene Unschuld, schmerzlich und einander sezierend. So kristallisiert sich Romain zum Zentrum der Familie heraus.
Stephan Pörtner:
Pöschwies
Irgendwie ist etwas schief gelaufen und Köbi Robert landete im Knast. Pöschwies. Für sieben lange Jahre. Endlich wieder draussen, findet der Privatdetektiv sein Zürich dermassen verändert vor, dass er sich kaum mehr auskennt. Er sucht an alte Bekanntschaften anzuknüpfen, doch die sind selbstgefällig, opportunistisch und fett geworden. Niemand mag ihn in seiner Mission Koch-Areal unterstützen, diesem Auftrag, den er aus der Pöschwies mitgenommen hat. So verstrickt sich Köbi Robert in einen Fall, der «tief in die Welt der Politik reicht. Grün wie noch nie, doch abgefuckt wie immer.»
Dror Mishani:
Drei
Wie beschaulich Dror Mishani seinen neuen Roman «Drei» zu beginnen vermag und wie abgrundtief gemein plötzlich die Wendung — Nein, nein, nein, möchte man ihm zuschreien, das ist nun wirklich nicht mehr lustig. Mishani porträtiert drei lebenshungrige, verunsicherte und gleichwohl selbstbewusste Frauen in präzisen Psychogrammen. Und steigt dabei so empathisch und konkret in ihre Gefühlswelt ein, dass man nur staunen kann. «Drei» ist in Israel bereits ein Megabestseller.
Raffaella Romagnolo:
Bella Ciao
«Destino» heisst dieses überwältigende Werk von Raffaella Romagnolo in Originalsprache. Ein Titel, der dem Inhalt besser entspricht als das leichtfüssige «Bella Ciao» der deutschen Übersetzung. Denn das Schicksal dirigiert das Leben der beiden Protagonistinnen. Derweil die eine in grösster Not nach Übersee emigriert, bleibt die andere, scheinbar mit dem glücklicheren Los in der Hand, im Piemont. Während die Migrantin in Manhattan unverhofftes Glück erfährt, durchlebt Italien die beiden Weltkriege. Der Roman flicht Geschichten von Krieg und Leid, von Widerstand und Liebe zusammen. Diesseits und jenseits des Ozeans und über drei Generationen hinweg. Geschichten, wie sie das 20. Jahrhundert schrieb.
John Jay Osborn:
Liebe ist die beste Therapie
Ein Buch wie ein Kammerspiel, jedes Kapitel im selben Setting: Ein Raum, vier Stühle, ein Mann, eine Frau und eine Paartherapeutin. Und der vierte Stuhl? Steht für die Ehe bereit. In der ersten Stunde fragt der Mann, wie hoch die Chancen stehen, diese Liebe noch zu retten. 1:1’000, so die vernichtende Einschätzung der Expertin. Ein herrlich kurzweiliges und mitunter verblüffendes Buch — besonders wenn die innere Stimme der Therapeutin alle Dialoge kommentiert …
Dörte Hansen:
Mittagsstunde
Brinkebüll liegt in Nordfriesland, der Heimat von Dörte Hansen. Die Menschen in ihrem Roman sprechen Platt und lieben ihre Heimat. Und wundern sich, wann denn der Wandel begonnen hat und ihr Dorf verschwunden ist. Heimkehrer und Hauptfigur Ingwer Feddersem, Dozent für Archäologie in Kiel, tastet sich vor und zurück in seiner Erinnerung — und konstatiert, dass das bäuerliche Leben im Einklang mit der Natur und seinen festen Gewohnheiten wohl auch nur eine Epoche war.
Kent Haruf:
Abendrot
Diogenes legt das kleine, aber feine Werk des 2014 verstorbenen amerikanischen Erzählers Kent Haruf erstmals in Deutsch auf. Seine sechs Romane spielen alle in der fiktiven Kleinstadt Holt im Herzen Colorados. Lakonisch und beinahe distanziert erzählt, berühren die Geschichten über Land und Leute zutiefst. Einige Harufs Figuren werden heute wohl als «White Crash» bezeichnet werden. Diese Trailerbewohner um ihre Würde kämpfen zu sehen, schmerzt beinahe körperlich.
Gary Shteyngard:
Lake Success
Zum Schreien komisch ist das neue Buch von Kultautor Shteyngart, in dem er seinen Hedgefonds-Millionär Barry Cohen im Greyhound-Bus auf Selbstfindung durch die USA jagt. Barry ist ein ausgekochtes Arschloch, das sich nur um die eigene Achse dreht und in Selbstmitleid schwimmt. Er crawlt durch Dreck und Schlamm, derweil seine Frau den gemeinsamen autistischen Sohn zu einem wunderbaren Menschen erzieht. Die Läuterung erfolgt während der Bar Mitzwa ebendiesens — vorgetragen mittels einer Computerstimme, die direkt ins Vaterherz zielt.
Julian Barnes:
Die einzige Geschichte
Paul verliebt sich mit neunzehn in die fast dreissig Jahre ältere Susan. Und erhält: lebenslänglich. In drei Erzählperspektiven, den drei Kapiteln des Buches, erinnert er sich an diese seine Liebe. Und resümiert: «Würden Sie lieber mehr lieben und dafür mehr leiden, oder weniger lieben und weniger leiden? Das ist, glaube ich, am Ende die einzig wahre Frage.» Ein grosser Kniefall Richtung Julian Barnes — und ein grosses Dankeschön für dieses wunderbare Werk.
Georges Simenon:
Der Schnee war schmutzig
«Es gibt in diesem Buch keine Verbrecher — aber es gibt durchaus Verbrechen —, so wie es hier auch keine bösen Menschen gibt, aber durchaus das Böse, als eine zerstörerische Kraft in den gelähmten und schwachen Seelen der Menschen. Der Schnee war schmutzig handelt von einem Menschen, der Böses tut, von den Bedingungen, die ihn dazu verleiten, von seiner späten Rettung durch die Liebe. Ein grösseres Thema kann es nicht geben. Dieses überwältigende, dunkle Buch wird ihm ganz und gar gerecht.» so Daniel Kehlmann im Nachwort. Georges Simenon selber erwähnte das Buch in einem Interview 1958: «Und wenn ich aus meinem ganzen Werk nur einen einzigen Satz aufbewahren dürfte, dann wäre es ein Satz aus Der Schnee war schmutzig: «Schwer ist der Beruf des Menschen.»
Jeffery Eugenides:
Das grosse Experiment
Alle zehn Kurzgeschichten des grossen amerikanischen Romanciers Jeffery Eugenides handeln von Menschen, die in Schwierigkeiten stecken. Und zwar knietief. Jede Geschichte fühlt sich an wie ein grosser Roman. Man möchte unbedingt mehr erfahren über die Figuren, die einem im Nu ans Herz wachsen. So zum Beispiel über den idealistischen Lektor, der seine Familie nur knapp über Wasser halten kann und sich zu einer kriminellen Handlung verführen lässt. Daraufhin in den Genuss des besseren Lebens kommt, sich langsam entspannt, Frau und Kinder glücklich sieht. Bis zu diesem einen Telefonat… Eugenides’ Cliffhanger sind zum Teil so brutal, dass man ihn an seinen Schreibtisch festbinden möchte, bis er die verdammte Geschichte in Gottes Namen zu Ende erzählt!
Paolo Giordano:
Den Himmel stürmen
«Ich sah sie nachts im Pool baden. Sie waren zu dritt und sehr jung, wie ich damals auch, fast noch Kinder.» Paolo Giordano verfolgt in seinem neuen kraftvollen und verstörenden Roman vier junge Freunde über zwanzig Jahre hinweg. Was leichtfüssig mit einer Jugendliebe beginnt, nimmt von Seite zu Seite an Gewicht und Dramatik an. Erzählt wird aus der Perspektive von Teresa. Im Fokus steht aber stets der leuchtende und unberechenbare Bern, der einem Kometen gleich unwillkürlich in den Abgrund rast. Gemeinsam mit Tommaso und Nicola wächst er unter dem selbstherrlichen Schutz eines Ziehvaters auf einem abgeschiedenen Bauernhof in Apulien auf. Er und seine zwei Wahlbrüder erfahren erst später, was diese fanatische Erziehung mit ihnen gemacht hat. – Paolo Giordano seziert seine Protagonisten geradezu. Man fragt sich, woher er diese Geschichten nimmt, und wie ihm solch tiefe Einblicke ins menschliche Sein gelingen.
Donatella Di Pietrantonio:
Arminuta
«Als Dreizehnjährige kannte ich meine andere Mutter nicht mehr.» So beginnt die Geschichte des Mädchens, das mit einem Koffer und einem Sack voller Schuhe bei einer ihr unbekannten Familie abgeliefert wird. Im abgelegenen Dorf in den Abruzzen, wo das Leben grob und karg ist, nennen sie fortan alle Arminuta, die Zurückgekommene. «Mit zwei lebenden Müttern wurde ich zum Waisenkind.» Ein schlichte, stiller Roman zu den grossen Themen Zugehörigkeit und Verantwortung.
Alfred Bodenheimer:
Im Tal der Gebeine: Rabbi Kleins fünfter Fall
Die Krimis um Rabbi Klein sind Kult. Der Rabbiner und Familienvater Gabriel Klein kümmert sich mit Hingabe um seine Zürcher Gemeinde, kann jedoch – wie die Katze das Mausen – das Ermitteln nicht lassen, wenns einen Mordfall im jüdischen Milieu gibt. In seiner Doppelrolle strebt der Rabbiner danach, Schuldige und Unschuldige zu scheiden und für Gerechtigkeit zu sorgen. «Nur», so sein Schöpfer, der Judaistik-Professor Alfred Bodenheimer, «scheitert Klein mit diesem Vorhaben grandios. Er meint, dank seiner Position den besseren Durchblick zu haben, kommt aber genauso an seine Grenzen wie alle anderen auch.» Die Krimis haben Suchtpotenzial – zum Glück erscheinen sie in so hoher Kadenz!
Vincenzo Todisco:
Das Eidechsenkind
Das Gesetz war so menschenunwürdig wie unumstösslich: Gastarbeiter durften in der Schweiz über Jahre hinweg nur ohne ihre Kinder herkommen und arbeiten. Was dieses Konzept für menschliche und familiären Tragödien mit sich brachte, erzählt der für den Schweizer Buchpreis nominierte Roman von Vincenzo Todisco. – Das Kind muss sich verstecken. Unter der Kredenz, im Schrank, in der Abstellkammer. Wenn es hustet, wird es unter einen Berg von Decken und Kissen gesteckt und das Radio wird aufgedreht. Um der Isolation zu entkommen, flüchtet es immer mehr in die Parallelwelt seiner ersten Jahre bei Nonna Assunta. So wie der Junge wächst und verkümmert, nimmt auch die Lebenskraft der Eltern ab. Und ihr Traum der Rückkehr nach Italien.
Juli Zeh:
Neujahr
Eigentlich ist alles in bester Ordnung. Der Mann hat zwei gesunde Kinder und einen passablen Job, eine kluge Frau, mit der er ein modernes Familienmodell lebt. Seine heftigen Panikattacken, die ihn nachts überfallen, unterdrückt und versteckt er tunlichst. Wie auch einige Wünsche, der er sonst noch hätte. Nun verbringt die Familie Ferien auf Lanzarote und er, Henning, will sich am Neujahrstag endlich einmal freistrampeln. Von allem. Mit dem Fahrrad keucht er den Berg hinauf und fährt direkt in ein Déjà-vu, in das Epizentrum aller seiner Ängste. Ab hier ist diese Novelle von Juli Zeh aus der Sicht des siebenjährigen Hennings geschrieben, ergreifend und explosiv.
Nora Krug:
Heimat
Dieses illustrierte, von Hand geschriebene, mit Fundstücken ergänzte Erinnerungsbuch ist ein Collage, wie sie noch nie gesehen wurde. Die in New York lebende Künstlerin Nora Krug spürt darin der Vergangenheit ihrer deutschen Familie nach. Sie sucht zu ergründen, wie und auf welcher Seite die Familie den zweiten Weltkrieg erlebt hat, und wie sie selber heute mit der Schuld, die ihr Volk auf sich geladen hat, umgehen kann. «Heimat» ist ein Kunstwerk, in dem Familiengeschichte auf Zeitgeschichte trifft. Eine Graphic Memoir, so wahr wie poetisch erzählt – so eindrücklich anzuschauen wie zu lesen.
Wolf Haas:
Junger Mann
Das Gute an Unfällen: Trostschokolade. Das Schlechte an zu viel Schokolade: Übergewicht. Das Gute am Verlieben: die Elsa. Das Problem am Verlieben: ihr Ehemann. Wolf Haas ist grosses Kino in kurzen Sätzen, witzig und temporeich in diesem seinem wunderbaren Sound, den nur der Österreicher kann. – Ausserdem: Alle seine Brenner-Krimis unbedingt lesen!
Eshkol Nevo:
Über uns
Ein Haus in Tel Aviv, drei Etagen, drei Menschen. Drei, die dringend reden müssen und in diesem hinreissenden Buch allesamt eine Art Beichte ablegen. Jede Lebensgeschichte ist ein Monolog — und so mutet das Lesen dieser Bekenntnisse an, als ob man Psychotherapeutin wäre und die Bewohner auf der Couch liegen hätte. Was vordergründig leichtfüssig daherkommt, entfaltet in seiner Überlappung eine überraschende Dichte.
Winnie M Li:
NEIN
NEIN ist eine Wucht – ohne Wenn und Aber. Ein hoch feministisches Buch und eine Sozialstudie zugleich. Die taiwanesisch-amerikanische Autorin wird 2008 auf einer Wanderung in der Nähe von Belfast vergewaltigt und erzählt nun davon. Von der Brutalität, die ihr als Zufallsopfer eines jungen Mannes widerfährt, der als verwahrloster «Irish Traveller» wiederum selber als Opfer bezeichnet werden könnte. Winnie M Li schneidet die Biografien von Opfer und Täter, die nicht unterschiedlicher sein könnten, gegeneinander bis zum Aufeinandertreffen. Und darüber hinaus. Sie versetzt sich mit einer unfassbaren Fairness in das Denken, Fühlen und Handeln dieses Mannes ein, der ihr Leben nachhaltig zerstört. Wie sie ihren Widersacher schildert und sich dessen Not annimmt, ist schlicht ein Meisterwerk.
Francesca Melandri:
Alle, ausser mir
Der Roman dieser römischen Autorin umspannt drei Generationen — ist ein Panoptikum Italiens im 20. Jahrhundert und ein schonungsloses Porträt seiner Gesellschaft. Illaria Profeti, Lehrerin in Rom, 47 Jahre alt, wird an dem Tag mit der Vergangenheit ihres Vaters konfrontiert, als ein junger Migrant vor ihrer Türe steht und behauptet, ihr Neffe zu sein. Höchst irritiert beginnt sie das Leben ihres Vaters zu recherchieren und bringt Stück um Stück seine faschistische Vergangenheit, seine Begeisterung für die arische Reinheitslehre, seine Zeit als Soldat im Abessinienkrieg und seine afrikanische Familie ans Licht. Diesen unglaublichen Wandel vom Saulus zum Paulus kann sie nicht mit Attilio Profeti, ihrem schillernden und liebenswerten Vater, in Einklang bringen. — Die «grosse literarische Psychoanalyse Italiens» (Die Welt) ist nicht nur als Familiensage äusserst lesenswert, sondern beunruhigt auch in höchstem Grade in Bezug auf die aktuellen Migrationsfragen. Francesca Melandri wurde für dieses Buch mit dem höchstdotierten Literaturpreis Italiens nominiert, dem Premio Strega.
Brit Bennett:
Die Mütter
Ein Mädchen wird schwanger vom Sohn des Pastors — und entschliesst sich zu einer Abtreibung. Mit diesem Nicht-Mutter-Werden-Wollen beginnt der Roman «Die Mütter», in dem jede der Hauptfiguren schwarz ist. Alle «Mütter» der kleinen kalifornischen Gemeinde, so werden die alten Frauen hier genannt, stürzen sich gierig und gnadenlos auf den Skandal derweil das Mädchen um seine Würde kämpft. Ziemlich schutzlos kämpft sie, denn ihre eigene Mutter hat sich vor Jahren das Leben genommen. Die Autorin Brit Bennet gilt mit ihren 26 Jahren als neues Wunderkinder der amerikanischen Literatur und wird bereits mit Toni Morrison verglichen.
Szczepan Twardoch:
Der Boxer
Ekelhaft brutal, dramaturgisch genial und filmisch-dicht erzählt — so schlägt der neue Roman von Szcepan Twardoch selbst seine kritischsten Leser in der ersten Sequenz k.o.. Bei einem Boxkampf bezwingt der Jude Shapiro seinen Kontrahenten, einen waschechten Polen. Und steigt nach diesem Kampf zum starken Mann an der Seite des Unterweltpaten Kaplica auf — und in den Krieg der Unterwelt ein. In blindem Gehorsam treibt Shapiro für den Paten Schutzgelder ein, mordet skupellos und drogt und hurt durch sich das Warschau der Vorkriegszeit. Er ist unverwundbar, wird gefeiert, bewundert, geliebt. Seinen Schutzbefohlenen ist er zärtlicher Vater, Mann und Förderer — wenn ihn nur nicht eine fatale Affäre alle Zugehörigkeit vergessen liesse.
Adam Haslett:
Stellt euch vor, ich bin fort
Fünf Familienmitglieder, fünf Erzählstimmen, zwei Generationen und sehr viel Leid, so kann das überwältigende und herzzerreissende Epos von Adam Haslett umrissen werden. Autobiografisch an diesem für den Pulitzer Preis nominierten Roman ist nicht nur der Freitod des eigenen Vaters, vielmehr auch das Wissen um das Zusammenleben mit einem manisch-depressiven Menschen. Haslett erzählt präzis und mit einer Leichtigkeit — und verwebt den Sound aller Erzählstimmen zu einer dichten Familiengeschichte. Stellt euch vor, ich bin fort — ein Roman, der den Blick auf psychische Krankheit verändern kann.
Pascale Kramer:
Autopsie des Vaters
Sie war ihrem Vater ausgeliefert, dem genialen und landesweit bekannten Intellektuellen. Dem Mann, der das Leben feiern konnte wie kein anderer, und sein Haus stets mit Freunden und Thesen bevölkerte. Sie schaffte es nie, ihm zu genügen, und findet erst Rettung, als sie sich in ein ihm fremdes Leben flüchtet – eines, das er nur mit kühler Verachtung straft. Am Tag vor seinem Freitod besucht sie ihn zu ersten mal seit Jahren und zeigt ihm ihren Sohn. Nicht ahnend, dass der mächtige Vater bereits ein gebrochener Mann ist. Und dass dieser mit einer Kehrtwende zum politisch Untragbaren einen hässlichen Flächenbrand entfacht hat. // Pascal Kramer wurde mit dem Schweizer Grand Prix Literatur 2017 ausgezeichnet.
Leïla Slimani:
Dann schlaf auch du
«Das Baby ist tot.» Mit diesen Worten beginnt der Roman von Leïla Slimani. Und dann schreit eine Mutter. Sie schreit aus tiefsten Tiefen, das Geheul einer Wölfin. Urgewaltig, wie man sonst im 10. Arrondissement von Paris niemanden schreien hört. // Schnitt. // Myriam und Paul suchen eine Nanny und werden fündig bei Louise, der Fee, die alles kann und bald unentbehrlich ist im Leben der jungen Familie … Leïla Slimani beschreibt eindringlich, wie die Eltern, entlastet und dankbar für die luxuriöse Situation zuhause, geflissentlich beginnen Details zu übersehen. Später, als das Unglück längst geschehen ist, wundert sich eine Polizistin, wie die allgegenwärtige Verwahrlosung niemandem hat auffallen können.
Nino Haratischwili:
Das achte Leben (für Brilka)
Die Familiensaga der deutsch-georgischen Autorin nimmt uns mit auf eine Reise durch die wunderliche Geschichte Georgiens. Traumwandlerisch erzählt sie von Liebe und Hass, Anpassung und Widerstand, Bürgerkrieg und Sozialismus, Mord und Selbstmord über sechs Generationen hinweg. Sie erzählt die Saga jedoch nicht etwa uns, ihren dankbaren Lesenden, sondern richtet das Wort einzig an ihre Nichte Brilka. An Brilka, die Unbezähmbare … Vorangestellt sei hier die Entstehungsgeschichte Georgiens, zum Verständnis des kleinen Landes am Schwarzen Meer: «Einst erschuf Gott die Erde und verteilte das Land an die Völker. Alle drängten sich vor, wollten den schönsten Zipfel der Welt. Nur die Georgier kamen zu spät an, als alles bereits verteilt war. Sie kümmerten sich aber nicht weiter gross darum und sangen, tranken und tanzten lieber weiter. Und der liebe Gott, gütig wie eh und je, beeindruckt von der Lässigkeit und dem nicht vorhandenen Ehrgeiz des Volkes, schenkte ihm sein eigenes Urlaubsparadies, also Georgien.»
Edouard Louis:
Im Herzen der Gewalt
Das Herausragende an diesem autobiografischen Bericht ist — neben der formvollendeten Sprache diverser Erzählstimmen — der Mut des jungen Franzosen, eine Vergewaltigung zu thematisieren. Nicht eine Vergewaltigung, seine Vergewaltigung. Edouard Louis nimmt jemanden in seine Wohnung hoch, beginnt trotz instinktiver Furcht eine Liebesnacht mit dem Fremden und wird im Morgengrauen Opfer dessen Wahnsinns. Dass er die Gewalt überlebt, ist Zufall. Dass er darüber spricht, ist ein Tabubruch sondergleichen.
Imbolo Mbue:
Das geträumte Land
Jende Jonga chauffiert die Limousine seines Chefs durch das Finance District von Manhattan, stets dessen Telefonate im Ohr. Er bringt den Lehman-Brothers-Banker von Meeting zu Meeting und setzt ihn stundenweise im Hotel Chelsea ab. Er bringt den einen Banker-Sohn zum Klavierunterricht und wischt ihm auch einmal die Tränen ab, derweil er den anderen über eine bessere Welt in Indien philosophieren lässt. Bevor die Gattin ins Auto steigt, vergewissert sich Jende zweifach, dass kein Staubkorn mehr die Rückbank verschmutzt, und wenn er nachts in der Subway Richtung Bronx zu Frau und Kind friert, fragt er sich, wie lange sich Amerika noch träumen lässt. Der jähe Zusammenbruch von Lehman Brothers hat die unmissverständliche Antwort drauf.
Olga Grjasnowa:
Gott ist nicht schüchtern
Hammoudi und Amal sind Syrier — beide jung, schön, privilegiert. Er ist nur auf einen Sprung nach Damaskus zurückgekehrt, um danach ein Stelle in Paris anzutreten und zu heiraten. Ihr steht als Schauspielerin nichts im Weg. Doch der Bürgerkrieg bricht aus und mit ihm alle zivilisatorischen Errungenschaften zusammen. Hammoundis Passverlängerung wird abgelehnt, Amal landet im Gefängnis und wird gefoltert. Die zwei, die sich nur einmal flüchtig in einem Treppenhaus begegnet sind, treffen nach erschütternden Jahren der Flucht in Deutschland wieder aufeinander. Mit einem Kind, das nicht ihres ist. «Wer Syrien verstehen will, lese dieses Buch», titelte die WELT.
Charles Jackson:
Die Niederlage
In der Erzähltradition Richard Yates’ oder Raymond Carvers gehalten, erscheint das Buch 1947 unter dem Namen «The Fall of Valor». Seine Protagonisten sind ein Ehepaar, das sich ein paar Tage am Meer ohne Kinder gönnt, und ein junger Offizier, der am selben Strand auf Fronturlaub ist. Die beiden Männer freunden sich an. Der Ältere ist fasziniert von der Leichtigkeit des jüngeren, nimmt dessen Charme und seine fröhliche Herzlichkeit persönlich. Und steigert sich in eine Fantasie, die ein jähres Ende nimmt.
Jonathan Safran Foer:
Hier bin ich
Alle quasseln, quatschen und diskutieren andauernd, kommentieren sich und alles Gesagte in Echtzeit und schwimmen in einem Wörterstrom, der nie zu versiegen scheint. Jacob und Julia, drei Söhne, ein Vater, eine Mutter und der Cousin, der aus Israel angereist ist. Jacob liebt sie alle und sucht dennoch aus seinem prall gefüllten Leben zu fliehen. «Hier bin ich» erzählt die Geschichte einer Trennung so dialogstark, dass man, wie Jacob, endlich mal nur noch Ruhe haben will. Neben den grossen Fragen des Lebens kommt in diesem phänomenalen Roman auch das Profane zur Sprache: Karriere, Konsum, Sex-Chats und ein inkontinenter Hund.
Kate Tempest:
Worauf du dich verlassen kannst
Punk-Rock pur ist er, der Debutroman der Spoken-Word-Künstlerin Kate Tempest. Fulminant, schnell, sprachlich unschlagbar. Drei Protagonisten, viel Personal rundum. Tänzerin Becky, die sich prostituiert. Koks-Dealerin Harry, die sie liebt. Freund Pete, der sie auch liebt. Jede Menge Alkohol, viel Gentrifizierung, ein Verbrechen, eine Flucht.
Deborah Feldman:
Unorthodox
Deborah Feldman wächst in einer ultraorthodoxen Gemeinde in Brooklyn bei ihren Grosseltern auf; nicht sonderlich lieblos, vielmehr einfach im normalen Leben religiöser Extremisten. Sie erzählt präzise und beinahe unbeteiligt von ihrer Kindheit, von der Flucht in die verbotene Welt der Bücher (wo sie sich vor allem in Jane Austens Frauenfiguren des 19. Jahrhunderts wiederfindet), der arrangierten Heirat mit einem durchaus guten Mann. Sie erzählt von der Erkenntnis, dass sie nicht einmal als erwachsene Frau ein individuelles Leben führen kann, sondern stets der obsessiven Überwachung der Gemeinschaft unterliegt. Und davon, wie sie merkt, dass sie nur überleben wird, wenn sie sich befreit. — Unorthodox kommt gleich nach seinem Erscheinen auf die Bestsellerliste der New York Times und ist sofort ausverkauft.
Juli Zeh:
Unterleuten
Schauplatz ist das fiktive Dorf Unterleuten in Brandenburg, nur eine Autostunde von Berlin entfernt. Eine Idylle inmitten eines Naturschutzgebietes. Angezogen von der Schönheit des Ortes treffen hier Aussteiger auf Alteingesessene, Lokalpolitiker auf Kriegsveteranen, Pferdefrauen auf Bodenspekulanten. Juli Zeh lässt uns alle Bewohner kennenlernen — jeder erzählt seine Sicht auf die Dinge. Im Nu sind wir in das Kabinett eingetaucht, in welchem sich die Geschichten sich zu einem Teppich verdichten, den man freiwillig nicht betreten möchte. — Unwiderstehlich!
Åsne Seierstad:
Einer von uns
Der Norweger Anders Behring Breivik hat am 22. Juli 2011 in Oslo einen Anschlag ausgeübt und selben Tages auf der Insel Utøya 69 junge Menschen zielgerichtet hingerichtet. Als True Crime konzipiert, recherchiert Åsne Seierstand für ihr Buch das Leben und die Herkunft von Breiviks akribisch — und dasselbe tut sie mit Leben und Herkunft seiner Opfer. Diese parallele Erzählungsweise, ergänzt durch Berichte von Utøya-Überlebenden und Auszüge aus den Verhörprotokollen, machen es beinahe unlesbar. Es ist ein Ringen um Fassung. Ein Fragen nach dem Warum.
Zeruya Shalev:
Schmerz
An der Lesung in Basel sagt Zeruya Shalev: «Well, I am actually not good in hating». Und das, obwohl sie selber wie die Protagonistin ihres neuen Romans Opfer eines Selbstmordattentates ist. Iris' Verbitterung in dem Roman «Schmerz» ist keine politische sondern vielmehr eine persönliche, da die Schmerzen sie stets zu diesen wenigen Sekunden zurückzwingen, die ihr Leben veränderten. Was führte dazu, dass sie exakt dann genau dort war, als diese Bombe hochging? Ihr Mann, ihre Kinder, ihrer aller Leben dreht sich um diesen Moment. Iris ist gewillt, dem Schmerz ein Ende zu bereiten, und begegnet ihrer Jugendliebe Eitan, einem Arzt und Schmerz-Spezialisten. Dem Mann, der sie als Erster traumatisierte.
Gary Shteyngart:
Kleiner Versager
Gibt es eine komisch-tiefgründigere Erzählweise als diejenige Shteyngart? Der Jude, Russe und Amerikaner hat seine Memoiren geschrieben — und das mit vierzig (was für ihn wie 75 oder 80 ist). Konsequent aus der Perspektive seines jeweiligen Alters geschrieben, schildert der kleinwüchsige und asthmatische Gary den Lauf der Dinge. 1979 wandert die Familie aus der Sowjetunion nach Amerika aus, Vater, Mutter und Igor. Wohin es geht? «Zum Feind.» Aus Igor wird Gary, aus Leningrad Brooklyn. Nur eines bleibt: dass er den Erwartungen seiner Eltern nie genügen wird. Berührend und grossartig!
Paolo Giordano:
Schwarz und Silber
Dieses schmale Büchlein ist eine wunderbare Liebeserklärung an Signora A., die Haushälterin eines jungen Paares mit Kind. An ihre stoische Präsenz, ihre dezidierte Meinung zu allem und jedem, an ihren Begriff von Moral, ihre Verlässlichkeit — gar auch an ihren verlässlichen Geiz. Als sie stribt, gerät die Welt des permanent überforderten Paares aus den Fugen. Die Trauer ist gross, der Verlust riesig. Doch dürfen sie überhaupt so empfinden, wo sie doch nicht einmal zur Familie gehören?
Roland Schimmelpfennig:
An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts…
80 Kilometer vor Berlin kippt ein Tanklaster auf der Autobahn. Auf dem Fahrstreifen streunt ein Wolf. Zwei Kinder laufen von zu Hause weg. Ein polnischer Bauarbeiter sucht seine Freundin. Eine Frau verbrennt die Tagebücher ihrer Mutter. Ein pensionierter Jäger ohne Hund erleidet einen Herzinfarkt. Alle Figuren und Schicksale kreuzen sich mit dem Weg des Wolfes. Alle suchen und gehen verloren, leiden unter der Kälte ihrer Zeit.
Ayelet Gundar-Goshen:
Löwen wecken
Die israelische Schriftstellerin Ayelet Gundar-Goshen lässt ihren Protagonisten in «Löwen wecken» eine Schuld aufladen, die nicht nur ihn selber sondern auch sein ganzes Umfeld in den Grundfesten erschüttert. Aus Vertrauen und Gewissheit wird Misstrauen und Angst. Das familiäre Glück kommt ihnen allen innerhalb dieser einen Sekunde abhanden, in der jemand getötet und Fahrerflucht begangen wird. Kaum zu fassen, dass dieser Text aus derselben Feder stammt wie das fulminant-komische, durch und durch der jiddischen Erzählkunst verschriebenes Debut «Eine Nacht, Markowitz» aus dem Jahr 2013.
Olga Grjasnowa:
Die juristischen Unschärfen einer Ehe
Olga Grjasnowa ist Aserbaidschanerin, Russin, Jüdin, Deutsche. Nach ihrem Grosserfolg «Der Russe ist einer, der Birken liebt» erzählt sie jetzt von von Altay und Leyla, zwei jungen aserbaidschanischen Oberschichtskindern, die eine Scheinehe eingehen, um ihre Familien ruhig zu stellen. Zusammen nach Berlin ausgewandert liebt sie also Frauen, er Männer, und trotzdem lieben sie sich beide und verlieren den Boden, als eine dritte Person in ihr Leben dringt. Rasant und skuril.
Stephan Thome:
Gegenspiel
Was für ein Genuss! Was für ein unglaublicher Lesegenuss dieses Buch denjenigen bereitet, die exakt dieselbe Paargeschichte bereits vor drei Jahren als Roman «Fliehkräfte» gelesen haben. Die Lektüre ist, wie alte Bekannte wieder zu treffen. Damals wurde die Geschichte aus der Perspektive des Mannes Hartmut Hainbach erzählt, jetzt aus der Perspektive seiner Frau Maria, die in den Siebzigerjahren aus Portugal nach Berlin kam mit nichts als Lebenshunger im Gepäck.
Per Petterson:
Nicht mit mir
Lakonisch und sehr leise erzählt Per Pettersons in diesem Männerbuch von Jim und Tommy, die ohne Väter irgendwo im norwegischen Niemandsland aufwachsen. Die beiden sind sich Trost und Halt trotz ihrer Unterschiedlichkeit, thematisieren ihre Freundschaft nie, verlieren überhaupt wenig Worte doch sich selbst bald ohne ersichtlichen Grund. Begegnen sich erst wieder, wenn das Leben schon halb aufgebraucht ist und wissen jetzt nicht, wie mit der Begegnung umzugehen.
Herta Müller:
Mein Vaterland war ein Apfelkern
Als deutschsprachige Rumänin flüchtet sich Herta Müller dann in Worte, wenn das Leben nicht mehr auszuhalten ist. «Ständig schreib ich dir Karten. Die Karten vollgeschrieben. Und ich leer.» Worte als Lebenselixier, die zu unendlich poetischen Sätzen zusammengefügt Terror und Schrecken beschreiben, den sie als Dissidentin in der Zeit der Securitate erlebt. 2009 erhält Herta Müller den Nobelpreis für Literatur, «Mein Vaterland war ein Apfelkern» ist ihre Biografie.
Charles Jackson:
Das verlorene Wochenende
Einmal mehr hat Doerlemann ein Meisterwerk ausgegraben und präsentiert dieses nun neu übersetzt und wunderbar in Leine gebunden. Manhattan 1936, East Side. Don Birnam trink. Und trinkt. Und hat schon lange jenen Punkt erreicht, an dem «ein Drink zu viel ist und hundert nicht genügen». Der Schriftsteller nimmt uns auf die irrwitzige Introspektion eines Alkoholikers mit, der zwischen Grössenwahn, Selbstverachtung, Verzweiflung und glasklarer Erkenntnis ein Wochenende durchlebt. 1944 geschrieben, 1945 verfilmt und mit vier Oscars ausgezeichnet.
Jhumpa Lahiri:
Das Tiefland
«Eine beeindruckende Balade von Liebe, Verlust und Tod», schreibt die New York Times. «Eine so suggestive, luzide Prosa, dass man beinahe vergisst, dass man liest», so die Newsweek über den neuen Roman der indisch-stämmigen Pulitzerpreisträgerin Jhumpha Lahiri. Sie führt anhand eines ungleichen Brüderpaars vor Augen, wie untrennbar das Politische vom Privaten wird, wenn sich innerhalb derselben Familie der eine radikalisiert, derweil sich der andere entzieht. Nach der Erschiessung des Aktivisten übernimmt der längst in die USA emigrierte Bruder die Verantwortung für dessen Frau und Tochter und belügt sich dabei schwer.
Chimamanda Ngozi Adiche:
Americanah
Die Protagonistin Ifemelu erfährt und erlebt erst in ihrem Studium in den USA, was es bedeutet, schwarz zu sein. Aus Nigeria kommend, ist sie zwar mit zahlreichen Arten gesellschaftlicher Missstände vertraut, doch nicht mit dem absolutesten aller Diskriminierungsmerkmale: der Hautfarbe. Sie beginnt, radikal und erfolgreich über den Unterschied von Afrikanern und Afroamerikanern zu bloggen. Darüber, was es bedeutet, täglich krauses Haar bändigen zu müssen, um eine Arbeit zu finden, und über die bigotte Politik der Weissen. Daneben sehnt sie sich nach ihrer Jugendliebe Obinze, der sich nach traumatisierenden Jahren in England zuhause korrupten Geschäften hingibt. – Americanah ist ein Roman, nach dessen Lektüre die Sicht auf die Welt eine andere ist.
Joël Dicker:
Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Grosses Kino aus der Westschweiz! Halb Krimi, halb Gesellschaftsroman. Der Ich-Erzähler – ein New Yorker Autor, der dringend eine neue Geschichte braucht – rollt einen Mordfall von vor 30 Jahren auf. Er recherchiert die Liebesgeschichte zwischen der minderjährigen Nola Kellergan und dem Literaten Harry Quebert, indem in den mittleren Westen fährt und mit seinem literarischen Idol endlose Gespräche führt. Plötzlich die Kehrtwende: Im Garten des alten Schriftstellers wird die Leiche des Mädchens ausgegraben. Nun sieht sich der Ich-Erzähler gezwungen, Harry Quebert, an dessen Unschuld er felsenfest glaubt, zu retten. Ein Buch im Buch mit verrückten Wendungen – ein Sog, dem man sich nicht entziehen kann.
Taiye Selasi:
Diese Dinge geschehen nicht einfach so
Wir waren Immigranten. Immigranten gehen weg. – Wir waren Feiglinge. – Wir haben uns geliebt. So endet die Zwiesprache zwischen Folé und ihrem verstorbenen Mann Kweku Sai, nachdem sich die sechsköpfige, über Weltstädte und Kontinente zersplitterte Familie zur Beerdigung des Vaters in Ghana trifft. Einst angesehener Chirurg in Boston, verliert dieser alles, was ihn ausmacht: Selbstachtung, Antrieb, Status. Und tut, was er kann: er geht weg. Eine fulminate Familiensaga. In einer Sprache komponiert, die einen nur staunen lässt!
John Williams:
Stoner
Geschrieben 1965, wurde dieses überragende Epos erst viel später Publikumserfolg. Es ist die unspektakuläre Geschichte eines amerikanischen Farmersohnes, der entgegen aller Vorsehung seine Leidenschaft für die Literatur entdeckt, in die akademische Welt eintritt und dort aber zeitlebens Zaungast bleibt. Er heiratet unglücklich, weil ihm gesellschaftliche Stellung und Geld fehlen, erntet Ächtung, als er sich nicht freiwillig für den Kriegsdienst meldet, zieht seine einzige Tochter liebevoll auf, bis auch diese ihm weggenommen wird, und wird plötzlich zur Hassfigur des Fakultätsvorsitzenden. Stoner ist sich bewusst, dass man sein Leben für gescheitert halten wird. Doch weiss er, dass er stets sich selbst geblieben ist.
Jonas Lüscher:
Frühling der Barbaren
Nein, er hat das Rennen um den Schweizer Buchpreis 2013 nicht gemacht – dennoch ist Lüscher mit diesem Debüt Gewinner dieses Jahres! In der Novelle erzählt Firmenerbe Preising während endloser Klinikspaziergängen einem unbekannten Ich-Zuhörer wortreich und umständlich, wie er, unbescholten und unbeabsichtigt, den Niedergang der Britischen Börse inmitten eines Luxusresorts in Tunesien erlebt. Wie er dort einer glamourösen Hochzeitsfeier Londoner Banker beiwohnt, als sich nach der Verkündigung des Börsencrash Irrsinn und Chaos breitmachen und er Zeuge schierer Barbarei wird. Hinreissend, witzig und sehr bös.
Stephan Thome:
Fliehkräfte
Hier wird die Geschichte des selbstgefällen Professors Hartmut Hainbach erzählt, der im Begriff ist, alles zu verlieren. Hainbach begibt sich roadmoviemässig auf Spurensuche seiner Lebensstationen, um dort anzuknüpfen, wo er irgendwie und irgendwann den Faden verloren hat. Fragmentarisch aufgebaut, meisterhaft erzählt, konstruiertes Mittelmass als Lebenskonzept.
Paolo Giordano:
Die Einsamkeit der Primzahlen
Paolo Giordano, Doktorand der Physik, räumt mit 26 als jüngster Gewinner aller Zeiten den wichtigsten Literaturpreis Italiens ab – den Premio Strega. Sein Roman handelt von einer Wahlverwandtschaft zweier, die beide als Kinder schwer traumatisiert worden sind, und später ihre Jugend und das Erwachsenwerden parallel durchlaufen. Schicksalhaft füreinander bestimmt, finden sich Alice Della Rocca und Mattia Balossino jedoch nur in der Einsamkeit des anderen. – Ein berührendes Drama. Beängstigend, realistisch, schnörkellos.
Urs Schaub:
Der Salamander
Endlich wieder einmal ein Schweizer Krimi, der Glauser und Dürrenmatt seine Ehre erweist. Wo nichts überstürzt wird und bei jeder Gelegenheit ausgiebig gespiesen. Im Zentrum stehen Simone Tanner und sein Freund Serge Michel, Polizist der Abteilung «Leib und Leben» aus dem Drei-Seen-Land. Die beiden spüren einem längst verjährten Mordfall nach und wundern sich über das Verhalten eines jungen Mannes.
Richard Ford:
Kanada
Dass Bankräuber Kinder haben, ist nicht vorgesehen. Dass Bankräuber dabei glücklich verliebt sind und auf eine erfolgreiche Zeit bei der Navy zurückblicken (er) oder polnisch-jüdische Lehrerinnen sind (sie), auch nicht. Der Banküberfall jedoch passiert, misslingt, und die Zwillinge der Delinquenten werden auf eine Odyssee durch Gut und Böse geschickt, welche sie nach Kanada führt. Wunderbar erzählt aus der Perspektive des 15-jährigen Dell Parson.
Raymond Carver:
Beginners
Der Amerikaner gilt als Urvater der neorealistischen Short-Stories. Er erzählt aus dem Leben der einfachen Leute, meist Gestrandeten und Hoffnungslosen. Auf minimalstem Platz schafft er es, ganze Universen einzufangen. Die ersten Veröffentlichungen wurden von seinem Lektor bis auf die Hälfte zusammengekürzt und diese Lakonie wurde Carvers Markenzeichen. Jetzt erst ist «Beginners» ungekürzt erschienen. – Carver, selber Alkoholiker, starb mit 50 Jahren. Viele seiner Short-Cuts wurden 1993 von Robert Altman verfilmt. – Für diejenigen, die mehr Carver bruchen: «Würdest Du bitte endlich still sein, bitte» und «Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden.» (Nur schon die Buchtitel sind den Kauf der Bände wert!)
Paul Auster:
Sunset Park
Was ist es eigentlich, das Auster so lesenswert macht? Sein neuer Roman «Sunset Park» ist nichts anderes, als eine rückwärts erzählte Chronologie des Scheiterns. Da ist der 28-jährige Miles, der lust- und ziellos von allem Abschied genommen hat, was ihn einst ausmachte. Er mäandriert durch Tätigkeiten, Orte und Begegnungen, stets teilnahmslos und passiv. Dennoch übt «Sunset Park» eine lustvolle Sogwirkung aus, deren man sich nicht entziehen kann.
Silvia Avallone:
Ein Sommer aus Stahl
Anna und Francesca, unzertrennbar, erleben einen ersten Sommer lang Lust und Leidenschaft im trostlosen Industrieort Piombino. Sie stürzen sich ins Meer und waten in den Algen, provozieren nach links und rechts, und verdrängen dabei meisterlich ihre familiären Dramen. Die Aggression und Kontrollsucht der Väter, die Perspektivlosigkeit der Brüder, die Verzweiflung der Mütter. Traumdestination der Mädchen ist Elba, das nur einige Kilometer entfernt unerreichbar bleiben wird.
Zeruya Shalev:
Für den Rest des Lebens
Dina, 46, will unbedingt noch ein Kind. Nizan, ihre 16-jährige Tochter, will unbedingt unabhängig werden. Chemda, Dinas sterbenskranke Mutter, träumt sich zurück in ihre Kindheit im Kibbuz und zu ihrem Mann, der einst ins Schiff nach Israel gesetzt worden war, um fortan dort auf seine Ermordeten zu warten. Und Avner, deren Sohn, leidet immer noch darunter, dass Mutter ihn zu sehr und Dina zu wenig geliebt hat. Wahnwitzig, dicht, glorios.
Antonio Pennacchi:
Canale Mussolini
Antonio Pennacchi beschreibt in seinem Familienepos der Faschismus in Italien aus Perspektive einer Bauernfamilie: Die Peruzzis aus dem Veneto werden zusammen mit Tausenden anderen in das malariaverseuchte Niemandsland südlich von Rom umgesiedelt, wo ihnen eine menschenwürdige Existenz und eine Zukunft versprochen wird ... Die Begeisterung für Mussolini, der Glaube das italienische Grossreich trägt. – In direkter Rede erzählt, schonungslos und ungekünstelt, ein grossartiges Buch!
Thomas Meyer:
Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse
Ein Muss für alle, die in den Zürcher Stadtkreisen 2, 3 oder 4 wohnen. Dem jungen orthodoxen Studenten Mordechai Wolkenbruch, kurz: Motti, passiert, was nicht passieren darf – er verliebt sich in eine Schickse. Hinreissend komisch und hinreissend gut, in einer Mischung aus Hochdeutsch und Jiddisch geschrieben, lernen wir durch Mottis Augen das nichtjüdische Zürich mit all seinen seltsamen Ritualen kennen!
Julia Franck:
Rücken an Rücken
Dass Julia Franck sprachvirtuos ist, wissen wir spätestens seit ihrem Roman «Die Mittagsfrau». Mit «Rücken an Rücken» steigert sich Julia Franck nun nochmals. Sie erzählt die Geschichte der Geschwister Ella und Thomas, die zusammen mit ihrer Mutter, einer Künstlerin und radikalen Kommunistin, in den 60er Jahren der DDR in einem Klima von Kälte und Misstrauen aufwachsen. Die beiden Kinder sind alles füreinander, stets Rücken an Rücken, Hoffnung und Familie, Liebe und Flucht – und brechen an der Perspektivlosigkeit ihrer Zeit.
Julian Barnes:
Vom Ende einer Geschichte
Ist das Buch zu Ende gelesen, wird gleich nochmals von vorne begonnen, denn scheinbar unwichtige Passagen bestimmen nun die Geschichte: Der biedere Webster muss sich an seinem Lebensende an die Jugendfreundschaft mit dem hochbegabten Adrian erinnern und wird plötzlich gewahr, dass alles anders war, als es schien. Die Erinnerung kommt träge, das Entsetzen ist gross und Websters Welt gerät aus den Fugen.
Margaux Fragoso:
Tiger Tiger
Die Amerikanerin Margaux Fragoso wir dafür verurteilt, dass sie ein Buch von ihrer Liebe zu dem Mann schreibt, der sie vom Alter von sieben Jahren an fünfzehn Jahre lang sexuell missbraucht. Es sei naiv, einen Pädophilen so undistanziert und sympathisch zu porträtieren. Dieser moralische Vorwurf ist paradox, denn nur durch das Erzählen – so verstörend der Bericht auch für die Leserschaft sein mag – wird nachvollziehbar, wie solche Beziehungen zustande kommen und über Jahre funktionieren.
Tom Rachman:
Die Unperfekten
Standort: Rom. Setting: Newsroom. Geschichte: Das Geld geht aus, eine internationale Zeitung sieht ihrem Ende entgegen. – Verzweifelt und voller Kraft wehren sich die Zeitungsmacher gegen das Unausweichliche. Erzählt wird der langsame Untergang in vielen abgeschlossenen, dicht verwobenen Kurzgeschichten, die als Ganzes einen grossartigen Gesellschaftsroman ergeben. Kurzweilig, melancholisch und klug – ein Buch zum Lieben.
Stephan Pörtner:
Stirb, schöner Engel
Der eigenbrötlerische Zürcher Ermittler Jakob Köbi Robert jagt in seinem dritten Krimi einer längst verjährten Geschichte nach. Denn 1973, vor gut vierzig Jahren, wird am ersten autofreien Sonntag in der Geschichte der Schweiz die Leiche einer jungen Frau in der Nähe eines Bündner Nobelkurortes gefunden. Verdächtigt wird der Internatsschüler aus dem Unterland, dessen Herkunft ihn aber unantastbar macht. – Super Krimi!
Arno Geiger:
Der alte König in seinem Exil
Das Vaterbuch von Arno Geiger, das Vaters Demenz-Erkrankung zum Thema hat, berührt durch seine Liebenswürdigkeit und seine Sorgfalt, und besticht durch Humor und Sprachkraft. Nach der Lektüre ist nicht vor der Lektüre – dieses Buch verändert das Leben. «Der alte König in seinem Exil» ist ein Muss für alle, deren Eltern alt werden.
Doris Knecht:
Gruber geht
Gruber ist erfolgreich, arrogant, cool und neurotisch. Er rast in einem Irrsinnstempo durchs Leben. Streift Bars, Betten und Flughäfen in Zürich, Berlin und Wien. Schnödet über alles und jeden bis ihn das Schicksal – zack! – brutal in die Eier tritt und ihn am Ende dieses Stückes als nicht ganz, doch zumindest als minimal geläuterten Menschen auferstehen lässt.
Philip Roth:
Nemesis
So wie Joseph Roth in «Hiob» lässt Philip Roth in seiner neuen Novelle «Nemesis» den jungen Gutmenschen Mr. Cantor mit Gott hadern. Dank seiner Kurzsichtigkeit vom Kriegsdienst befreit, kämpft er als Arzt im elend heissen Sommer 1944 in Newark gegen die furchtbare, damals noch unheilbare Polioepidemie an. Er wird verführt, erliegt der Versuchung und macht sich schuldig. Seltsam distanziert wird hier ein böser Streich der Natur erzählt.
Stephan Thome:
Grenzgang
Schauplatz deutsche Provinz. Alle sieben Jahre findet in den Stadtmauern ein feuchtfröhliches Volksfest statt. Die Jugendfreunde Thomas und Kerstin, zwei vom Leben enttäuschte Mittvierziger, prallen aufeinander und beginnen gemeinsam die Suche nach dem Glück. Die Begegnung ist zart, ein Wandel scheint möglich. Was gut beginnt, wird nach einem Siebenjahressprung in die Zukunft schonungslos demontiert, wenn das nächste Volksfest vor der Türe steht.
Ferdinand von Schirach:
Schuld
Irritierend der Berliner Strafverteidiger Ferdinand von Schirach. Ist das Erzählte Fiktion oder Wahrheit? Mit Hochgenuss und Schauder lesen sich die kleinen und die schlimmen Verbrechen, die Abscheulichkeiten und der Irrsinn. Wer nach «Schuld» noch mehr Stoff braucht, für den steht der erste Geschichtenband «Verbrechen» und der 2011 erschienene, grossartige «Fall Collani» bereit.
Bernhard Schlink:
Sommerlügen
Präzis und gleichwohl flüchtig skizziert Schlink ganze Leben auf wenigen Seiten. Seine Momentaufnahmen sind vordergründig leicht, fast freundlich, bei näherem Hinschauen tun sich jedoch tiefe Abgründe auf. Mit herzlicher Empfehlung für Liebhaber der gepflegten Sprache.
Marie NDiaye:
Drei starke Frauen
Fulminant, grossartig, das stärkste Buch ever! Drei Geschichten erzählen virtuos von drei Afrikanerinnen, die im Grenzbereich zwischen Realität und Traum den Grausamkeiten des Schicksals auf unterschiedliche Weise trotzen. Zutiefst erschütternd. Diese Frauen gehen einem nie mehr aus dem Kopf.
Pedro Lenz:
Dr Golie bin ig
Der leiernde und ausufernde Mundart-Monolog vom Goalie, der gar kein Goalie ist, sondern ein Ex-Junkie, und der nach einem Jahr Gefängnis zurück in seine Kleinstadt kommt und dort nochmals ganz von vorne beginnt. Das Schurkenstück wurde für den Schweizer Literaturpreis 2010 nominiert und feierte 2013 als Kinofilm grossen Erfolg. Als Tipp: Pedro Lenz live erleben!
Alain Claude Sulzer:
Zur falschen Zeit
In «Ein perfekter Kellner» erzählt Claude Alain Sulzer von einer Liebe zwischen zwei Männern, die vierzig Sommer zurückliegt. Dass Sulzer mit seinem neuen Roman «Zur falschen Zeit» ein breites Publikum erreicht, ist mehr als erfreulich. Zur Geschichte: Wiederum eine grosse Liebe, die im Drama endet. Unbedingt lesen!
Patti Smith:
Just Kids
Dieses Buch ist das eingelöste Versprechen der Künstlerin Patti Smith an ihren Freund Robert Mapplethorpe, ihre gemeinsame Zeit nie zu vergessen. Sie erzählt von den ersten Jahren in New York, bevor sie beide Weltruhm erlangten und bevor Mapplethorpe 1989 an Aids starb. «Er nahm meine Hand und liess sie nie mehr los», steht da. Unglaublich berührend, klug und unsentimental.
Leon de Winter:
Das Recht auf Rückkehr
Apokalyptische Sicht auf das Jahr 2048: Israel ist traumatisiert, isoliert und veraltert. Ein Paar verliert ihr vierjähriges Kind, wird darob wahnsinnig und lässt sich auf dubiose Rückholversprechungen ein. Dass Leon de Winter sich nach Veröffentlichung dieses islamkritischen Buches noch öffentlich in Amsterdam bewegt, ist erstaunlich.
Frank Tallis:
Wiener Blut, Die Liebermann-Papiere, Kopflos
Krimi-Trilogie, die 1910 in Wien spielt. Es ermitteln ein Hauptkommissar und sein Freund, der junge jüdische Psychoanalytiker Liebermann, ein Schüler Freuds. Leicht trivial die Geschichten, doch schwer liebenswert.
Martha Gellhorn:
Ausgewählte Briefe
Die Briefe der ehemaligen Kriegsreporterin erstrecken sich beinahe über das ganze 20. Jahrhundert. Mit ihrem hellwachen und rebellischen Geist kommentiert das Zeitgeschehen bis zu ihrem Freitod im Alter von 90 Jahren. In der wunderschönen, in Leinen gebundenen Edition von Doerlemann erschienen sind auch ihre Erzählbände «Paare», «Muntere Geschichten für müde Menschen» und «Das Wetter in Afrika». Alles lesen! Unbedingt!
Almudena Grandes:
Das gefrorene Herz
«Eines der beiden Spanien wird dir das Herz gefrieren lassen.» Mit einem Zitat von Antonio Machado beginnt der fast tausendseitige Roman, der einem Psychogramm der spanischen Gesellschaft gleichkommt. Der Leser lebt und liebt und leidet sich mit den beiden verfeindeten spanischen Familien durch den Spanischen Bürgerkrieg, den Zweiten Weltkrieg und die Franco-Diktatur bis heute. Die Figuren wachsen einem dermassen ans Herz, dass das Abschiednehmen einem Entzug gleichkommt.